Folgt man dem französischen Philosophen Cornelius Castoriadis, der heuer 100 Jahre alt geworden wäre, haben Literatur und Kunst einen wesentlichen Anteil daran, dass Individuen an bestimmte politischen Ideen glauben und so an der Institutionalisierung einer Gesellschaft mitwirken, die genau diesen Ideen und Idealen entspricht. Dabei ist die Kunst sowohl Ausdruck und Ergebnis als auch Impulsgeberin genau dieser gesellschaftlichen Überzeugungen.

Für die Entwicklung der griechischen Demokratie im fünften Jahrhundert vor Beginn der Zeitrechnung war laut Castoriadis die damals neu entstandene Theaterform der Tragödie zentral. Im tragischen Tod des Helden erkannten die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht nur ihre eigene Sterblichkeit, sondern auch die ihrer Könige und Anführerinnen: der Tod als großer Gleichmacher und Katalysator eines demokratischen Bewusstseins.

Die Kinokomödie als Medium der politischen Bildung

Heute mag man in einem Interesse an griechischen Tragödien eher ein soziales Distinktionsmerkmal und weniger den Ausdruck gesellschaftlicher Gleichheit erkennen. Doch auch in der modernen Populärkultur finden sich zahlreiche Belege dafür, wie sich politische Vorstellungen in wiederkehrenden Erzählmustern ausdrücken. Ein anschauliches Beispiel dafür bieten die sogenannten Buddy-Movies, in denen eine mehr oder weniger ungleiche Freundschaft im Zentrum der Handlung steht. Im 2011 erschienen französischen Erfolgsfilm "Ziemlich beste Freunde" ("Intouchables" im französischen Original) wird der aus dem Senegal stammende Ex-Häftling Driss nicht nur zum Pfleger des querschnittgelähmten Adeligen Philippe, sondern in weiterer Folge auch zu dessen bestem Freund. So vermittelt der Film, dass sich durch gegenseitiges Vertrauen sowohl soziale Isolation als auch jede Form der gesellschaftlichen Ungleichheit überwinden lässt.

In "Ziemlich beste Freunde" wird gesellschaftliche Ungleichheit überwunden.
Foto: Filmverleih Senator

Die Freundschaft der beiden wird damit zum Sinnbild der französischen Gesellschaft schlechthin. Die alleinige Verantwortung für die Überwindung sozialer Unterschiede liegt dieser Vorstellung zufolge beim Individuum. Strukturelle Ungleichheiten wie Rassismus und Diskriminierung von Menschen mit Behinderung erscheinen als jeweils individuelle Herausforderung, die durch ein bisschen persönliches Bemühen leicht ausgeglichen werden können.

Ebenso wie Ideale gesellschaftlicher Gleichheit keine rein westlichen Erfindungen sind, ist auch das Genre des Buddy-Films nicht nur auf Hollywood-Produktionen und französische Komödien beschränkt. Das indische Bollywood-Kino ist von seinen Anfängen an stark von der Darstellung von Freundschaftsbeziehungen geprägt. Das gilt besonders für die in den 70er-Jahren gedrehten Filme des "Superstars" Amitabh Bachchan. Im 1973 erschienenen "Zanjeer" (Hindi für "Fesseln") spielt er etwa den desillusionierte Polizisten Vijay, der den muslimischen Unterweltzar Sher Khan auf die Seite des Gesetzes zieht und in ihm einen ebenso liebevollen wie tatkräftigen Freund gewinnt, der ihn im Kampf gegen die Geister seiner Vergangenheit unterstützt. Die Freundschaft zwischen dem unkonventionellen hinduistischen Polizisten und dem ehrenwerten muslimischen Kleinganoven wird so zur Voraussetzung der Wiederherstellung absoluter Gerechtigkeit und der Aufrechterhaltung der politischen Ordnung.

Das indische Bollywood-Kino ist von seinen Anfängen an stark von der Darstellung von Freundschaftsbeziehungen geprägt.
Foto: Prakash Mehra Productions

Männerfreundschaft als demokratische Pflicht

Wie in den beiden Beispielen sind Freundschaftserzählungen in Filmen sehr oft politisch aufgeladen. Freundschaft erscheint geradezu als demokratische Pflicht, der man sich kaum entziehen kann. Dabei verschleiert die Egalität der Freundschaftsbeziehung oft die im Hintergrund wirksamen Ungleichheiten. Der schwarze Driss und der muslimische Sher Khan werden für ihre Integration belohnt, doch die strukturellen Diskriminierungen werden nicht beleuchtet. Was bei all dieser Betonung der Vielfalt aber besonders auffällt: Es sind fast ausschließlich Männer, die im Geiste der Verbrüderung den Freundschaftsbund schließen. Das in den Filmen dargestellte Ideal der demokratischen Gleichheit ist also noch immer patriarchal strukturiert. Auch das hat sich seit der griechischen Tragödie kaum geändert. (Philipp Sperner, 17.6.2022)