Da waren es nur noch 109. Nach dem Austritt der populistischen Partei "Es gibt so ein Volk" des Entertainers Slawi Trifonow aus der bulgarischen Regierung hat das Kabinett von Kiril Petkow statt 134 nur mehr 109 Stimmen im Parlament und damit die Mehrheit verloren. Trotzdem will Petkow mit einer Minderheitsregierung weitermachen. Er hofft auf ein paar Stimmen der Partei der ehemaligen Regierungspartners, wenn es um Gesetzesvorlagen geht, doch es kann auch sein, dass angesichts der Destabilisierung bald wieder gewählt werden muss.

Vergangenes Jahr fanden in Bulgarien gleich dreimal Wahlen statt – im April, im Juli und im November. Nach den ersten beiden Durchgängen waren die Parteien nicht in der Lage, eine Regierung zu bilden. Erst nachdem der Übergangswirtschaftsminister Petkow eine neue Partei gegründet hatte, gelang es ihm im Dezember, eine Koalition zu schmieden. Diese war aber von Anfang an instabil, denn insbesondere der völlig unerfahrene und populistische Trifonow schien auch schon im Vorfeld nicht an einer ernsthaften Regierungsarbeit interessiert und schwang nationalistische Parolen.

Mehrheitsfindung wird schwierig

Petkow meinte nun, er sei "optimistisch", dass seine zentristische Partei "Wir setzen den Wandel fort" und ihre beiden verbleibenden Koalitionspartner, die Sozialisten und die liberale Partei Demokratisches Bulgarien, nach dem Verlust der parlamentarischen Mehrheit immer noch ihre Zusagen einlösen können. Dennoch könnte es sein, dass die Bulgaren schon wieder zu den Urnen schreiten müssen. Petkow trat vor allem mit dem Versprechen an, die Justiz zu reformieren und in der Wirtschaft und bei öffentlichen Ausgaben für mehr Transparenz und Rechtsstaatlichkeit zu sorgen.

Das Zerwürfnis mit Trifonow hat mehrere Gründe. Zunächst war der Versuch, ein Mitglied von Trifonows Partei zum Zentralbankchef zu ernennen, gescheitert. Trifonow hatte zudem verlangt, dass mehr Subventionen für Bauunternehmen im Budget verankert werden. Außenpolitisch war es vor allem die Haltung zum kleinen Nachbarland Nordmazedonien, die für Zwist sorgte. Unter dem als korrupt geltenden Ex-Premier Bojko Borissow hatte Bulgarien ein Veto gegen den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien eingelegt. Begründet wurde das mit einer unterschiedlichen Geschichtsinterpretation und Identitätsfragen.

Nationalisten machen Druck auf Petkow

Das bulgarische Veto vor zwei Jahren warf Nordmazedonien wieder schwer zurück. Das Land könnte bereits in der EU sein, wenn nicht zunächst Griechenland und jetzt Bulgarien jegliche Verhandlungen unterbinden würden. Zudem gibt es EU-Staaten wie Frankreich, die keine Erweiterung wollen und die Nordmazedonien nicht unterstützen, obwohl die Regierung in den vergangenen Jahren die einzige in der Region war, die glaubwürdig Reformen durchführte. Ex-Premier Zoran Zaev warf angesichts des Verhaltens der Nachbarn und der mangelnden Unterstützung anderer EU-Staaten wie Frankreich im Vorjahr das Handtuch.

Petkow selbst will das Veto aufheben, doch wegen der Nationalisten im eigenen Land hat er den Schritt bisher nicht gewagt. Trifonow hatte Petkow zuletzt vorgeworfen, die Interessen Bulgariens missachtet zu haben, weil dieser nach Wegen aus der Vetosituation gesucht hatte. In Bulgarien wird propagiert, dass Nordmazedonien die Geschichtsvorstellungen von Nationalisten in Bulgarien übernehmen müsse, und es wird fälschlicherweise behauptet, dass Bulgaren in Nordmazedonien diskriminiert würden, ähnlich wie Nationalisten in Kroatien behaupten, Kroaten würden im Nachbarstaat Bosnien-Herzegowina diskriminiert.

Geheimverhandlungen

Zwischen der bulgarischen und der nordmazedonischen Regierung gibt es in der Causa seit Jahren Verhandlungen, die allerdings angesichts der heiklen Situation nicht öffentlich sind. Einer der Bulgaren, die am Veto festhalten, ist Präsident Rumen Radew, der von den Sozialisten unterstützt wird, aber nationalistische Positionen bezieht. Radew besteht etwa auf der Bedeutung der "Erhaltung des bulgarischen kulturellen und historischen Erbes" in Nordmazedonien. Manche nationalistischen Bulgaren behaupten sogar, es gebe gar keine mazedonische Nation oder Sprache, sondern es handle sich eigentlich um Bulgaren und Bulgarisch.

Scholz bei Petkow.
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Bei seinem Besuch in Nordmazedonien und in Bulgarien vergangene Woche setzte sich unterdessen der deutsche Kanzler Olaf Scholz dafür ein, dass Sofia endlich das Veto aufhebt. Die erste Regierungskonferenz zwischen der EU und Nordmazedonien können sofort beginnen, so Scholz. "Die Voraussetzungen sind erfüllt. Ich fordere Sie auf, Ihre Nachbarschaft zu ermutigen, dies zu ermöglichen. Nordmazedonien und Albanien haben die Voraussetzungen erfüllt, und alle anderen Länder sollten es unterstützen. Das ist mein Wunsch, jetzt liegt es an uns, es zu schaffen." Der deutsche Kanzler betonte auch, dass die EU im Interesse ihrer Glaubwürdigkeit und aufgrund der Zusage, die sie dem Land vor zwei Jahren gegeben habe, die Verhandlungen nun aufnehmen solle.

Verfassungsänderung gefordert

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz sagte Petkow: "Das Veto kann nur aufgehoben werden, wenn Skopje Garantien für die Erfüllung des Nachbarschaftsabkommens gibt und wenn die Bulgaren als eine nationsbildende Gruppe in die Verfassung aufgenommen werden." Scholz betonte seinerseits, dass Deutschland verstehe, dass es nicht einfach sei, historische Probleme zu überwinden, aber auch, dass man als Europäer gemeinsam für die Stabilität des Balkans verantwortlich sei. "Unsere Aufgabe ist es, Hoffnungen nicht zu enttäuschen", so Scholz.

Der neue mazedonische Premier Dimitar Kovačevski forderte indes einen bedingungslosen Beginn der Beitrittsgespräche. "Mazedonien hat alles getan, um die erste Regierungskonferenz mit der EU zu ermöglichen. Wir können nicht ständig Geiseln auf EU-Gipfeln sein und abwarten, ob es einen Termin geben wird oder nicht", sagte Kovačevski. Auch Albanien kann nicht mit den EU-Verhandlungen beginnen, weil über die beiden Länder in der Frage zusammen entschieden wird.

Ignoranz der anderen Europäer

Es ist aber mehr als zweifelhaft, dass noch am 23. Juni, beim EU-Gipfel in Brüssel, Bulgarien grünes Licht in der Frage gibt. Dabei ist Nordmazedonien jener Staat in Südosteuropa, der am reformiertesten und zielstrebigsten ist und bereits große Teile des EU-Rechts übernommen hat. Nordmazedonien hat seit 17 Jahren den Kandidatenstatus. Alle anderen Staaten – auch Serbien und Montenegro, die seit Jahren verhandeln – haben weniger Schritte in Richtung EU unternommen.

Nordmazedonien könnte deshalb, wenn es die Chance bekommen würde, ziemlich schnell der Union beitreten – die anderen Staaten nicht. Das nordmazedonische EU-Abkommen ist bereits in der zweiten Phase – möglich wäre deshalb bereits jetzt, dass die Nordmazedonier Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU erlangen könnten. (Adelheid Wölfl, 12.6.2022)