Seit Ende 2013 ist die Sonde Gaia unterwegs und sammelt Daten von Milliarden Sternen in der Milchstraße.

Foto: Spacecraft: ESA/ATG medialab; Milky Way: ESA/Gaia/DPAC; CC BY-SA 3.0 IGO. Acknowledgement: A. Moitinho.

Seit über acht Jahren sammelt das Weltraumteleskop Gaia emsig Daten über unsere Milchstraße. Ziel ist die bisher detaillierteste 3D-Karte unserer Galaxie und ihrer Milliarden Objekte. Darüber hinaus werden Millionen fremde Galaxien und Schwarze Löcher außerhalb der Milchstraße kartiert. Am Montag präsentierte die Esa das dritte und bisher größte Datenpaket der Mission. Es hält einige Überraschungen bereit.

Seltsame Sternenbeben

Der Datenhunger von Gaia ist groß: Das Teleskop erfasst Details zu 1,8 Milliarden Sternen unserer Galaxie, etwa deren chemische Zusammensetzung, Temperatur, Farbe oder Masse. Auch ihr Alter und die Geschwindigkeit, mit der sich die Sterne relativ zu uns bewegen, kann Gaia sehr präzise messen – und dabei so manches verblüffende Phänomen beobachten: So fanden sich in den Daten Hinweise auf eine Vielzahl von Sternenbeben, die in dieser Form nicht erwartet worden waren.

Oben: Die Geschwindigkeitsdaten von 30 Millionen Objekten in der Milchstraße gewähren einen Eindruck von der Rotation der Milchstraße: Helle Bereiche zeigen Sterne, die sich von uns wegbewegen, Objekte in den dunklen Zonen bewegen sich auf uns zu.
Mitte: Eine ähnliche Darstellung in anderen Schattierungen. Die Linien zeichnen die Eigenbewegung einzelner Sterne nach.
Unten: Die chemische Signatur der Sterne kann zugleich als Wegweiser zu ihrem Geburtsort dienen – und damit zu einer historischen Karte der Milchstraße. Das Bild zeigt den Reichtum der Sterne an Atomen, die schwerer als Wasserstoff und Helium sind, Forschende sprechen von Metallizität. Die Gaia-Daten zeigen: Sterne, die näher am Zentrum und an der Ebene unserer Galaxie liegen, sind reicher (in der Darstellung rot) an Metallen als Sterne in größerer Entfernung.
Foto: ESA/Gaia/DPAC

Bereits zuvor hatte Gaia radiale Schwingungen entdeckt, die Sterne regelmäßig anschwellen und wieder schrumpfen lassen, während sie ihre kugelförmige Gestalt mehr oder minder beibehalten. Aus dem neuen Datenmaterial wird nun aber ersichtlich, dass auch andere Schwingungen existieren, die eher wie große Tsunamis wirken und die Form eines Sterns verändern können.

Bei tausenden Sternen seien diese nichtradialen Sternenbeben mit Gaia entdeckt worden – auch bei solchen, bei denen diese der Theorie nach nicht auftreten sollten, teilte die Esa mit. "Derartige Beben, die wir als Aufflackern der Sterne wahrnehmen, liefern wertvolle Daten zur inneren chemischen Zusammensetzung, wie deren Temperatur, Dichte, Material, aber auch deren innerer Bewegung", erklärt die Astroseismologin Conny Aerts von der Universität Leuven. Gaia habe bereits 100.000 derartige flackernde massereiche Sterne entdeckt.

Die DNA der Galaxie

Über die Zusammensetzung der Sterne wollen die Forschenden mehr über deren Entstehungsort, aber auch deren Reise in der Milchstraße erfahren und so mehr über die Geschichte unserer Galaxie lernen. So bestätigte Gaia einmal mehr, dass viele Objekte in unserer Galaxie ursprünglich nicht hier "geboren" wurden, sondern aus fremden Galaxien stammen und schließlich von der Milchstraße einverleibt wurden.

Blendet man all die Sterne der Milchstraße aus, wird sichtbar, wie staubig unsere Heimatgalaxie eigentlich ist. Die Bilder von Gaia zeigen, dass der Löwenanteil der Gas- und Staubwolken rund um das Zentrum rotiert.
Foto: ESA/Gaia/DPAC

Das Besondere an der "Sternenkarte" ist, dass neben der chemischen Zusammensetzung auch die Bewegung der Sterne registriert wird, was ebenfalls Rückschlüsse auf die Evolution unserer Galaxie erlaubt. 33 Millionen sogenannte Radialgeschwindigkeiten wurden von Gaia mit diesem Datensatz gesammelt. Das ist fünfmal so viel, wie bisher verfügbar war. Auf diese Weise kann besser verstanden werden, wie die Rotation der Milchstraße sich auch auf unser rotierendes Sonnensystem auswirkt.

Asteroiden und Exoplaneten

Neben den 1,8 Milliarden Sternen wurden etwa 800.000 Doppelsternsysteme katalogisiert. Darüber hinaus wurden über 156.000 Asteroiden erfasst und kategorisiert, die ebenfalls wichtige Hinweise auf den Ursprung des Sonnensystems bieten. Allein 400 davon kreuzen die Erdbahn, deren Bahn wird deshalb besonders genau beobachtet.

Aber auch nähere Objekte standen durch Gaia unter Beobachtung: Zu sehen sind die Bahnen von mehr als 150.000 Asteroiden des inneren Teils des Sonnensystems. Der gelbe Kreis in der Mitte repräsentiert die Sonne. In der blauen Zone kreisen die erdnahen Asteroiden. Der Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter ist grün, die Jupiter-Trojaner sind rot.
Foto: APA/AFP/EUROPEAN SPACE AGENCY

Auf der Suche nach Exoplaneten wurden die Forschenden ebenfalls fündig. Bereits zwei wurden bestätigt, 200 potenzielle Kandidaten müssen nun geprüft werden. Für die nächste Datenpublikation, das bereits vierte Gaia-Datenset, dessen Zeitpunkt noch nicht feststeht, rechnen die Forschenden sogar mit zehntausenden möglichen neuen Exoplaneten, die in unserer Galaxie entdeckt werden.

"Schleusenöffnung für Wissenschaft"

Anlässlich der Datenpublikation sprach Esa-Direktor Josef Aschbacher von einer "Schleusenöffnung für die Wissenschaft und das Verständnis über die Milchstraße". Allein für den Montag waren 50 neue wissenschaftliche Publikationen angekündigt. Im Jahr werden mittlerweile über 1.600 Arbeiten veröffentlicht, die auf dem Datenschatz des Weltraumteleskops basieren. Der zur Verfügung gestellte Datensatz beläuft sich auf 10 Terabyte und ist in 90 Kategorien sortiert.

Video: Eine multidimensionale Karte der Milchstraße.
European Space Agency, ESA

"Je mehr Daten wir bekommen, desto schwieriger wird die Verarbeitung. Gleichzeitig entsprechen die 1,8 Milliarden Sterne gerade einmal einem Prozent der in der Milchstraße vorhandenen Sterne", sagt Gaia-Projektwissenschafter Timo Prusti zum STANDARD. Man versuche folglich einen technischen Balanceakt, um mit einer möglichst repräsentativen Auswahl ein gutes Abbild der Milchstraße erreichen zu können.

Die enormen Datenmengen – als Problem habe sich weniger die Verarbeitung als die Übertragung zu den Forschenden erwiesen – würden aber neue technische Innovationen begünstigen. Neben mehr Rechen- und Speicherleistung werde künstliche Intelligenz zum Finden forschungsrelevanter Ergebnisse künftig eine immer größere Rolle spielen, zeigt sich auch Günter Hasinger, wissenschaftlicher Direktor der Esa, gegenüber dem STANDARD überzeugt. (Martin Stepanek, 13.6.2022)