Nimmt man die jüngsten Wahlen in Lateinamerika als Maßstab, so rückt der Subkontinent wieder nach links: In Honduras gewann im November Xiomara Castro von der Linkspartei Libre; in Chile folgte im Dezember der ehemalige Studentenführer Gabriel Boric, und in Kolumbien lag jetzt in der ersten Runde der Linkskandidat Gustavo Petro klar vorne. Die Regionalmacht Mexiko, mit ihrem Einfluss in Mittelamerika und der Karibik, wird seit 2018 erstmals von einem linksnationalistischen Präsidenten regiert, und bei der südamerikanischen Regionalmacht Brasilien hat Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei gute Chancen, im Herbst an die Macht zurückzukehren.

Xiomara Castro gewann in Honduras.
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Linke Welle

Damit könnten bis zum Jahresende die sechs größten Volkswirtschaften Lateinamerikas wieder allesamt in linker Hand sein – was bei manchen Erinnerungen an die rosarote Welle zu Beginn des Jahrtausends weckt. Die Linke, die ab 2009 nach und nach ihre Macht einbüßte – vor allem aufgrund von Korruptionsaffären –, bekommt eine neue Chance. Ihr Comeback hat mit der desaströsen Regierungsbilanz der konservativen und liberalen Politiker zu tun, die sie abgelöst hatten. Von Argentinien über Kolumbien bis Honduras hatten diese der Bevölkerung keine Zukunftsvision zu bieten, sondern nur rückwärts gerichtete neoliberale und wertkonservative Rezepte, garniert mit wirtschaftlichen Krisen und oftmals ideologischer Polarisierung und Repression.

Gabriel Boric regiert Chile.
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Doch es geht nicht nur um einen konjunkturellen Ausschlag des Pendels in die andere Richtung, sondern auch um grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. Seit 2019 wird die Region immer wieder von Protesten erschüttert. Gerade die Jugend fühlt sich vernachlässigt von einer Elite, die sich wenig schert um soziale Gerechtigkeit, aber auch um "moderne Themen" wie Geschlechtergleichheit und Umweltschutz.

Minenfeld

Die Welt sieht heute anders aus als in den 2000er-Jahren bei der ersten rosaroten Welle. Damals ließ eine Hausse der Rohstoffpreise die linken Regierungen Lateinamerikas in Devisen schwimmen, die großzügig unter den Ärmeren verteilt werden konnten, ohne den Reichen etwas wegzunehmen. Das ist heute anders. Der Ukraine-Krieg, die höchste Armut seit zwanzig Jahren infolge der Pandemie, die Rückkehr des Hungers, Klimawandel, Rekordmigration, Inflation und drohender Protektionismus sind ein Minenfeld für jede Regierung. Viele dieser Probleme sind national gar nicht zu lösen, sondern bedürfen mindestens regionaler Kooperation.

Gustavo Petro entschied die erste Wahlrunde in Kolumbien für sich.
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Anachronismus

Werden die neuen linken Regierungen den Herausforderungen gewachsen sein? Zweifel sind angebracht, zumal sich viele linke Parteien weder inhaltlich noch personell reformiert haben. Bestes Beispiel dafür ist Brasilien. Aber auch andere Präsidenten tragen gerne ihr anachronistisches Weltbild zur Schau, in dem jeder zum Freund erklärt wird, der sich mit dem US-Imperialismus anlegt – von Wladimir Putin bis zu den Diktaturen in Kuba, Venezuela und Nicaragua. Der Amerika-Gipfel war schon im Vorfeld dadurch belastet, dass der Gastgeber USA nur Demokratien dazu einladen wollte.

Luiz Inácio Lula da Silva könnte in den Palácio do Planalto in Brasília zurückkehren.

Der unreflektierte Schulterschluss vieler lateinamerikanischer Staatschefs mit den Diktaturen in Kuba, Nicaragua und Venezuela lässt Zweifel aufkommen an ihrer demokratischen Gesinnung – und an ihrer strategischen Zukunftsvision. Die Goldmedaille der Rückwärtsgerichteten gebührt wohl Mexikos Präsident Andres Manuel López Obrador, der sich gleich mit den beiden wichtigsten Modernisierungskräften im progressiven Spektrum anlegt: den Feministinnen und den Umweltschützern. Den Lichtblick bietet Chile. Dort hat sich der 36-jährige Boric einer ökologisch-feministischen Programmatik verschrieben – die auf enorme Widerstände der Elite stößt. Statt Rückendeckung von linken Gesinnungsgenossen der Region hagelt es aber Kritik. Die Shitstorms, als Boric auf Twitter den nicaraguanischen Diktator Daniel Ortega und die Ukraine-Invasion kritisierte, sprechen Bände. Er sei ein Pseudolinker, der sich bei den USA anbiedere, und Ähnliches findet sich da.

Andres Manuel López Obrador legt sich mit Feministinnen und Umweltschützern an.
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Tragischer Bruderkrieg

Der linke Bruderkrieg ist zwar nicht neu, aber er ist tragisch. Gelingt der Linken auch diesmal die Modernisierung nicht, droht die Region in die Hände von Hasardeuren zu fallen. Warnzeichen gibt es genug, die bekanntesten sind Brasiliens neofaschistischer Präsident Jair Bolsonaro und El Salvadors autoritärer Millennial-Präsident Nayib Bukele. Aber selbst das demokratische Vorzeigeland Costa Rica legte gerade sein Schicksal in die Hände eines rechtspopulistischen Außenseiters. Und in Kolumbien zieht mit Rodolfo Hernández ein Kandidat in die Stichwahl ein, der sich zum Anhänger von Adolf Hitler erklärt hat.

Diese Kandidaten sind nicht immer rechts, sondern hauptsächlich ideologisch undefinierbare Narzissten und selbsternannte Korruptionsbekämpfer, die den Hass gegen das Establishment instrumentalisieren und dann – weil sie in der Regel keine gefestigte Partei hinter sich haben – zwangsläufig entweder mit Traditionsparteien paktieren oder demokratische Institutionen zerstören müssen, um regieren zu können.

Keine Ausrutscher

Derartige Kandidaten sind keine Ausrutscher. Hinter ihnen stehen – genau wie bei Donald Trump – einflussreiche Finanziers aus dem anarcho-libertären Spektrum. Dessen Sympathisanten, zu denen auch zum Beispiel Elon Musk oder zahlreiche Befürworter des Brexits gehören, treiben weltweit Projekte wie den Bitcoin oder die Schaffung von Privatstädten und Steuerparadiesen voran, um den Einfluss der Staaten zurückzudrängen und demokratische Kontrollmechanismen zu schwächen. Dafür haben sie in vielen Fällen eine Zweckehe mit erzkonservativen Kräften geschmiedet, denen es darum geht, progressive Errungenschaften wie zum Beispiel das Abtreibungsrecht rückgängig zu machen. In Lateinamerika sind dabei die charismatischen, evangelikalen Kirchen besonders nützlich. In Ländern wie Brasilien ist der Einfluss der Freikirchen inzwischen so groß, dass ohne die Stimmen der Evangelikalen nur noch schwer Wahlen zu gewinnen sind. (Sandra Weiss aus Puebla, 14.6.2022)