Hunderte Unternehmen haben Russland sofort nach Kriegsbeginn den Rücken gekehrt. Diejenigen, die geblieben sind, argumentieren mit Verantwortung gegenüber Bevölkerung und Aktionären. Die Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner und Markus Scholz lassen das nicht einfach so gelten.

STANDARD: Seit über 100 Tagen herrscht Krieg, zig westliche Unternehmen sind immer noch in Russland tätig. Haben sie den Groll der Öffentlichkeit ausgesessen und ist es jetzt schon egal?

Scholz: Nein, wer als Unternehmen Russland nicht verlässt, muss es gut begründen. Firmen haben eine soziale und politische Verantwortung. Steuern zahlen, Jobs schaffen, Innovationen hervorbringen und Profit machen als alleinige Aufgaben gilt nicht mehr.

STANDARD: Wissen Unternehmen das auch?

Scholz: Die jüngsten Krisen, Ukraine-Krieg und Covid, haben gezeigt, wie hilflos und unvorbereitet Betriebe mitunter sind. Managerinnen und Manager sind für Fragen unternehmerischer Verantwortung nicht hinreichend ausgebildet. Zudem fehlt es häufig an geeigneten Governance-Strukturen.

Beschorner: Verantwortliche in Corporate-Social-Responsibility(CSR)-Abteilungen müssen sich die Frage gefallen lassen, welche Rolle ethische Fragen eigentlich spielen. In der Praxis wirkt es in weiten Teilen immer noch so, dass sich Unternehmensverantwortung wirtschaftlich rechnen muss. Damit ist es eine CSR ohne das wichtige "R" – wohlverstandene Verantwortung wird leer.

Die Wirtschaftsethiker Scholz und Beschorner fordern mehr Rückgrat und Mut von Unternehmern. Außerdem seien zahlreiche Firmen viel zu wenig auf Krisen vorbereitet.
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STANDARD: Haben Sie ein Beispiel?

Scholz: Nestlé. Die verlassen Russland nicht und sagen nichts, auch nicht, als schon hunderte Konzerne weg waren. Irgendwann haben sie dann doch reagiert, da war es aber schon sehr durchsichtig, dass es wegen des Gruppenzwangs war.

STANDARD: Müssten Unternehmen demnach nicht unzählige andere Länder auch verlassen?

Beschorner: Ungerechtigkeit mit Verweis auf andere Ungerechtigkeiten zu legitimieren ist ein schlechter Ratgeber. Geschäfte mit Schurkenstaaten zu machen sticht die Frage nach Sanktionen gegenüber Russland nicht aus. Das ist der berühmte Whataboutism, also die Frage "Aber was ist mit anderen Ländern?". Die Kenntnis über massive Missstände in China, im arabischen Raum oder sonst wo sollte uns eher dazu anregen, auch über Wirtschaftsbeziehungen in diesen Ländern nachzudenken.

Geht es nach Thomas Beschorner, kann man sich vom Credo Wandel durch Handel verabschieden. Es gebe diverse Beispiele, dass Kapitalismus und autoritäre Regime ganz vorzüglich gemeinsam funktionieren.
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STANDARD: Mit Verantwortung gegenüber der Bevölkerung und den Mitarbeitern begründen viele ihren Verbleib. Zählt das nicht?

Scholz: Natürlich haben Unternehmen eine große Verantwortung gegenüber ihrer Belegschaft. Sie dürfen diese nach ihrem Abzug auch nicht im Stich lassen. Viele Unternehmen zahlen deshalb übergangsweise weiter Gehälter. Und man muss differenzieren. Firmen, die Medikamente und Babynahrung herstellen, können und sollen Russland natürlich keinesfalls sofort verlassen. Wie wichtig es ist, die russische Bevölkerung mit Gucci-Handtaschen und Kitkat-Schokoriegeln zu versorgen, steht auf einem anderen Blatt.

STANDARD: Jahrelang hieß es aber, Handel würde helfen, autoritäre Staaten zu demokratisieren. Ist das berühmte Credo Wandel durch Handel abgesagt?

Beschorner: Marktwirtschaft und Demokratie gehen Hand in Hand, Handel führt zu demokratischem Wandel. Von dieser Vorstellung sollten wir uns verabschieden. Es gibt diverse Beispiele, dass Kapitalismus und autoritäre Regime ganz vorzüglich gemeinsam funktionieren. Man muss daraus lernen, wie man mit diesen Staaten weiter umgeht. Es geht nicht um einen Abschied von der Globalisierung, sondern um eine ethische Gestaltung von internationalen Beziehungen. Außerdem, wo findet noch gleich die nächste Fußballweltmeisterschaft statt? (Katar, Anm.)

Scholz: Unternehmen müssen sich fragen, ob sie nicht irgendwann auch zu Steigbügelhaltern und Komplizen autokratischer Herrscher werden, wenn sie weiterhin "business as usual" machen und das Lied vom Wandel durch Handel singen. Unternehmen haben erhebliche Möglichkeiten, sich etwa für Menschenrechte einzusetzen. Dieses Engagement muss allerdings gewollt und dann auch gut gemanagt werden. Hier sehe ich Luft nach oben.

Markus Scholz hegt Zweifel daran, ob die russische Bevölkerung Handtaschen von Gucci zum Überleben braucht.
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STANDARD: Oft hört man, wir verlassen Russland nicht, wegen der Verantwortung gegenüber Aktionären und weil man Investments nicht verbrennen will?

Scholz: Das ist der Versuch, Risiken zu externalisieren. Unternehmerisches Risiko ist der Grund, warum wir Milliardengewinne zulassen. Es geht nicht, dass wir Gewinne privatisieren und Verluste sozialisieren.

Beschorner: Wer sich für einen Standort wie Russland, China oder Katar entscheidet, muss derartige Aspekte einrechnen. Das steht in jedem ökonomischen Lehrbuch über Standortfaktoren und Risikomanagement im ersten Kapitel. Negative ökonomische Konsequenzen in politisch instabilen Kontexten müssen einfach getragen werden. In diesem Fall also: Marktwirtschaft statt Mimimi, bitte. (Andreas Danzer, 14.6.2022)