Zerstörung in Sjewjerodonezks Nachbarstadt Lyssytschansk.

Foto: AFP/Aris Messinis

Der Frust war dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Sonntagabend deutlich anzuhören, als er dem Westen für alle hörbar taube Ohren vorwarf. Mehr als 2600 russische Raketen hätten seit Kriegsbeginn Tod, Leid und Zerstörung angerichtet, sagte er in einer Videobotschaft. "Das sind Leben, die hätten gerettet werden können, Tragödien, die hätten verhindert werden können – wenn die Ukraine erhört worden wäre." Schließlich, so Selenskyj, habe er schon lang vor dem Beginn der Invasion um moderne Raketenabwehrsysteme gebeten – vergebens.

Am Montag wurde sein Berater Mykhailo Podolyak konkreter: "1000 Haubitzen vom Kaliber 155 Millimeter, 300 Mehrfachraketenwerfersysteme, 500 Panzer, 2000 gepanzerte Fahrzeuge, 1000 Drohnen" brauche die Ukraine, um an der 2400 Kilometer langen Front gegen die russischen Angreifer zu bestehen – und das besser heute als morgen. Beim Treffen der Nato-Verteidigungsministerinnen und -minister heute, Mittwoch, erwarte sich Kiew eine Entscheidung, schrieb Podolyak auf Twitter.

Lager unter Beschuss

Russland nimmt unterdessen – neben der ukrainischen Zivilbevölkerung – immer öfter Lager ins Visier, in denen seinen Angaben zufolge westliche Waffen auf ihren Einsatz an der Front warten. Am Wochenende will Moskaus Armee ein entsprechendes Depot nahe Ternopil im Westen der Ukraine mit Raketen zerstört haben, am Montag meldete der Kreml einen Angriff auf ein Lager in Udatschne im ostukrainischen Donbass.

Für den Kampf um die strategisch wichtige Industriestadt Sjewjerodonezk könnten die Waffen, so sie denn geliefert werden, ohnehin zu spät kommen. Am Montag hat die ukrainische Armee den Verlust des Zentrums eingeräumt. Russische Truppen hätten die Stadt mit Artillerie beschossen und die Verteidiger vertrieben, teilte der ukrainische Generalstab mit. Zuvor hatte dessen Oberbefehlshaber Selenskyj erklärt, es werde dort "buchstäblich um jeden Meter gekämpft".

Unter schwerem Artilleriefeuer steht ukrainischen Angaben zufolge auch die Chemiefabrik Azot, die in den 1930er-Jahren Keimzelle der kurz darauf gegründeten Stadt war. Im Luftschutzbunker unterhalb der Anlage sollen weiterhin viele Zivilistinnen und Zivilisten ausharren.

Flüsse als Faktor

Das britische Verteidigungsministerium sagt derweil eine entscheidende Bedeutung von Flussquerungen in der kommenden Phase des Krieges voraus. Ein zentraler Teil der Frontlinie liege westlich des Flusses Siwerski Donez, an dessen Ostufer sich Sjewjerodonezk befindet.

Um die erhofften Fortschritte im Donbass zu erzielen, müsse Russland daher entweder komplizierte Flankenangriffe durchführen oder Flussquerungen unternehmen. Den ukrainischen Verteidigern gelang es des Öfteren, Letzteres zu verhindern. (flon, 14.6.2022)