Stress und Angst haben seit Ausbruch der Pandemie massiv zugenommen. Bei einer Befragung gaben 16 Prozent der Befragten ab 14 Jahren an, suizidale Gedanken zu haben.

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Es sind die letzten Stunden des Nachtdiensts. Die Sonne ist schon aufgegangen, als ein Mädchen mit der Rettung an die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Klinik Hietzing gebracht wird. Die 13-Jährige hat Glasscherben geschluckt. Sie droht damit, sich umzubringen, und braucht dringend ein Akutbett. Alle acht dieser Betten im geschlossenen Bereich für Jugendliche sind belegt. Die diensthabenden Mediziner telefonieren hektisch. Drei Stunden später ist endlich klar: Das Mädchen kann bleiben. Ein anderer Patient wird verlegt, auch wenn in der Abteilung ein ungutes Gefühl zurückbleibt.

Diese Geschichte hat sich vor kurzem an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Klinik Hietzing zugetragen. In der Belegschaft am Rosenhügel kursiert eine Niederschrift dazu. Situationen, die für Patientinnen und Patienten oder das Personal gefährlich werden können, kommen immer häufiger vor, hört man dort. Assistenzärztinnen und Assistenzärzte haben jetzt in einer sogenannten Gefährdungsanzeige an ihre Vorgesetzten, die dem STANDARD vorliegt, ihre diesbezüglichen Sorgen niedergeschrieben. Da steht zum Beispiel: "Laufend stehen Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung vor Aufgaben und Entscheidungsprozessen, denen man nicht gewachsen ist."

Offen redet niemand der Angestellten darüber, das ist nur mit Erlaubnis der Presseabteilung des Wiener Gesundheitsverbunds (Wigev), des Trägers der Krankenhäuser, erlaubt. Dem Wigev wird an der Station nicht mehr so recht getraut. Das Personal fühlt sich dort im Stich gelassen. Die Abteilung läuft auf Notbetrieb, auch wenn das offiziell nicht so gesagt wird. Allein heuer haben fünf ärztliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Handtuch geschmissen. Derzeit sind laut Wigev sieben Fachärztinnen und Fachärzte dort, im Herbst 2021 waren es noch zwölf. Einige der Verbliebenen arbeiten in Teilzeit, Kündigungsfristen laufen noch. Ab Juli werden nur mehr drei Vollzeitstellen besetzt und eine Erwachsenenpsychiaterin da sein. Für eine Station, die täglich rund um die Uhr laufen muss.

Mehr Stress und Angst

Die Entwicklung in Hietzing ist speziell, doch die Versorgung von Kindern und Jugendlichen in psychischer Not steht in ganz Österreich auf tönernen Füßen. Ärztinnen und Ärzte dieses Faches sind europaweit rar, hierzulande besonders. Mit Fortdauer der Pandemie nahmen zudem Stress, Überforderung und Angstzustände bei jungen Menschen zu. Bei einer Befragung der Med-Uni Wien und der Donau-Uni Krems gaben 16 Prozent der Jugendlichen an, suizidale Gedanken zu haben. Psychiatrische Abteilungen verzeichneten im Vorjahr deutlich mehr Aufnahmen als vor Corona.

Kathrin Sevecke ist Direktorin an der Innsbrucker Uniklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter und Primaria der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall in Tirol. Sie sagt, bei ihr sei die Situation besser als in Hietzing, sie könne sich aber jederzeit verschlechtern: "Unsere Klinik läuft, aber wenn mir ein Facharzt abhandenkommt, funktioniert mein Dienstrad auch nicht mehr wirklich", sagt die Wahltirolerin mit deutschen Wurzeln am Telefon. Das Gespräch findet auf ihren Wunsch an einem Feiertag im Juni am frühen Abend statt. Der nächste Tag, ein Arbeitstag, werde einfach zu dicht sein.

890 Betten für die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung sollte es in Österreich geben. Nach Angaben der Gesundheit Österreich GmbH (Gög) waren es 2020 gerade einmal 349. Eine Bestandsaufnahme 2019 ergab noch 52o. Die Bettenmessziffer, die anhand der Einwohnerzahl errechnet wird und bei 0,1 liegen sollte, offenbart große regionale Unterschiede: Während Salzburg (mit 0,07) besser dasteht, sind die Steiermark (0,03), Wien, Tirol, Kärnten und Oberösterreich (0,04) weit vom Ziel entfernt. Das Burgenland hat gar kein kinderpsychiatrisches Bett.

Zu wenige Praxen und Ambulanzen

Auch außerhalb der Krankenhäuser fehlt es an Anlaufstellen: 36 kinder- und jugendpsychiatrische Ambulatorien sollte es geben. Laut Gög sind es gesichert nur zwölf – Stand 2017, neuere Gesamtzahlen fehlen. Damals gab es noch 15 weitere ähnliche Einrichtungen, die aber nicht ganz einer Ambulanz entsprechen. Je nach Bundesland gilt ein anderes Konzept.

Im niedergelassenen Bereich wurde bundesweit ein Bedarf von 111 Kassenordinationen der Kinder- und Jugendpsychiatrie errechnet: Laut Ärztekammer gab es Ende 2021 ziemlich genau ein Drittel davon. In Wien ist die Zahl seither um vier gestiegen, auf insgesamt neun. Die Zielvorgabe dort wäre 26.

Kein Wunder also, dass Sevecke, seit eineinhalb Jahren Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Handlungsbedarf an allen Ecken und Enden sieht. "Meine Forderung ist, den ambulanten und den stationären Bereich auszubauen und sich moderne und intelligente Konzepte zu überlegen, wie zum Beispiel das Home-Treatment." In vier Bundesländern, darunter Wien, gibt es erste Projekte oder Konzepte dafür: Home-Treatment sieht eine engmaschige Betreuung in der gewohnten Umgebung der Patientinnen und Patienten vor.

Nachts bespucken lassen

Sevecke fordert auch Psychotherapie auf Kasse für alle, die sie brauchen, unbürokratisch und flexibel. Die 13 Millionen, die da pandemiebedingt für Kinder und Jugendliche vom Bund lockergemacht werden, seien "viel zu wenig". Und es brauche Anreize, um Fachärztinnen und Fachärzte in Spitäler zu locken. Denn: "Man lässt sich nicht gerne nachts von intoxikierten Jugendlichen beschimpfen und bespucken, wenn man dabei ein Gehalt bezieht, das man leichter in einer Privatpraxis oder in einer anderen Situation verdient."

Die heimische Politik entschied erst 2007, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einem eigenen Fach werden soll. Jährlich machten rund zehn Fachärztinnen und Fachärzte in Österreich ihren Abschluss. Zunächst durfte je eine Fachärztin einen Assistenten ausbilden, erst in diesem Frühjahr erhöhte der Gesundheitsminister, damals Wolfgang Mückstein (Grüne), die Quote auf 1:2.

Der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) wäre für eine weitere Verdoppelung der Ausbildungsquote. Der gewichtige Wiener Sozialdemokrat fordert weiters, dass die Zahl der Wahlarztordinationen limitiert und der Bereich stärker reguliert werden soll. Außerdem würde er gern frische Absolventen des Fachs eine Zeitlang für die Arbeit im öffentlichen Gesundheitssektor verpflichten.

Patientenstau

Einige Ideen Hackers stoßen Helmut Krönke sauer auf. Der 40-jährige Kinder- und Jugendpsychiater, markantes Kinn, sonore Stimme, ist selbst seit fünf Jahren Wahlarzt in Wien und war zuvor einige Jahre am AKH tätig. Als Obmann der Fachgruppe in der Ärztekammer ärgert er sich, dass hier versucht werde, Ärzte in etwas hineinzuzwingen, statt an der Grundsituation an den Spitälern etwas zu verbessern. Wahlärzte übernähmen sehr viel wichtige Versorgung, sagt Krönke. Einer seiner Patienten mit schwerer Depression warte seit fünf Monaten auf einen stationären Platz. "Bei uns staut es sich aus dem Spitalsbereich zurück."

Dem Personal in Hietzing wurde über Jahre hinweg Entlastung durch eine neue Abteilung ihres Fachs im Norden Wiens versprochen: die heutige Klinik Floridsdorf. Diese führt bis heute kein einziges Bett – wegen des Facharztmangels. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Rosenhügel, die nach und nach von ihrer Erschöpfung sprachen, soll gesagt worden sein, dass sie besser gehen sollten. Dass das Primariat seit über zwei Jahren nicht besetzt ist und der interimistische Leiter, Patrick Frottier, nicht beim Wigev angestellt ist, erzeugt auch kein Wir-Gefühl.

Ganz Wien verfügt derzeit laut Gesundheit Österreich über 61 kinderpsychiatrische Betten an zwei Standorten. 34 davon in Hietzing, der Rest im AKH. Der Regionale Strukturplan Gesundheit (RSG) 2020 ging von 149 Betten aus. Für 2025 gilt nun die Zielvorgabe von 88 Betten, in acht Jahren sollen es 150 sein. Außerdem kündigt Wien einen Ausbau der ambulanten Betreuung an.

Externe füllen Dienstplanlücken

Um der Personalnot in Hietzing entgegenzuwirken, habe man die multiprofessionellen Teams aus Psychologinnen und Pädagogen aufgestockt, heißt es beim Wigev. Weiters springen Kinder- oder Erwachsenenpsychiater anderer Spitäler für Dienste ein. Eine Taskforce soll eine mittel- bis langfristige Lösung erarbeiten. Kurz existierte auch der Plan, den Rosenhügel ab Juli an den Wochenenden zuzusperren. Dann hätte das AKH von Freitagnachmittag bis Montagfrüh alle kinderpsychiatrischen Akutfälle abfangen müssen. Dort wehrte man sich, das sei nicht zu schaffen. Die Station sei schon jetzt überbelegt.

Die Situation des Personals ist also schwierig – wie geht es erst Patientinnen und Patienten? Oft finde im Spital nur mehr eine kurze Krisenintervention statt, ist zu hören. In Hietzing etwa werden schon lange nicht mehr bei Entlassungen Termine zur ambulanten Nachbetreuung vereinbart. Auch andere Abteilungen haben mehr auf Akutversorgung umgestellt, sagt Sevecke. In Tirol stünden 90 Patienten auf einer Warteliste. Viele haben Essstörungen. Bis sie drankommen, verschlechtert sich ihr Zustand.

Und wie erlebte jene 13-Jährige die frühen Morgenstunden, in denen am Rosenhügel ein Bett für sie gesucht wurde? DER STANDARD konnte das nicht erfahren. Beim Wigev weist man zurück, dass jemand stundenlang gewartet habe. Jeder, der ein Bett benötige, bekomme es. Notfalls vorübergehend auch in der Erwachsenenpsychiatrie. (Gudrun Springer, 19.6.2022)