Der Stein, oder in diesem Fall das Tier, des Anstoßes stammt aus dem Jahr 1290. Damals wurde an der Südfassade der evangelischen Wittenberger Stadtkirche in Sachsen-Anhalt – jener, in der der Reformator Martin Luther predigte – ein Relief angebracht. Es zeigt eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch ihre Spitzhüte als Juden identifiziert werden können. Ein Rabbiner hebt den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. Schweine gelten im Judentum als unrein.

Der Pensionist Dietrich Düllmann, der nach eigenen Angaben 1978 zum Judentum konvertierte, wohnt nicht in Wittenberg, sondern 560 Kilometer weiter westlich in Bonn. Dennoch verlangte er von der Kirche die Entfernung der "Judensau", da er sich beleidigt fühlte. "Sie verstößt gegen das Grundgesetz, gegen Artikel 1, gegen die Würde des Menschen", sagt er. In Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes heißt es: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Die Inschrift "Rabini Schem Ha Mphoras" wurde in Anlehnung an antijudaistische Schriften Luthers angebracht.
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Inschrift von 1570

Düllmann berief sich aber nicht nur auf das Grundgesetz, sondern verweist auf die besondere, aus dem Nationalsozialismus resultierende, historische Verantwortung der Deutschen gegenüber Juden: "Die Geschichte hat es immer und immer wieder bewiesen, dass es bei einer Beleidigung nicht geblieben ist." Die "Judensau", so Düllmann, solle in ein Museum, wo man den Kontext besser erklären und auf die Inschrift an der "Judensau" Bezug nehmen könne. "Rabini Schem Ha Mphoras" lautet diese – ein hebräischer Verweis auf den unaussprechlichen Namen Gottes bei den Juden. Diese Inschrift wurde im Jahr 1570 in Anlehnung an zwei von Martin Luther 1543 veröffentlichte antijudaistische Schriften angebracht. Luther (1483–1546) wirkte in Wittenberg und hetzte vor allem in seinem Spätwerk gegen Juden.

An dem Relief störten sich in Deutschland viele Menschen, auch noch nach dem Jahr 1988. Damals, 50 Jahre nach Beginn der Judenpogrome im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland, hat die Kirchengemeinde, in Absprache mit der jüdischen Gemeinde, ein Mahnmal zur "Judensau" gestellt, in dem diese als "Schmähplastik" bezeichnet wird. Zudem wird auf Judenverfolgungen im 15. und 16. Jahrhundert verwiesen, ebenso auf Luthers antijudaistische Schriften. Zu lesen ist folgende Inschrift: ""Gottes eigentlicher Name / der geschmähte Schem Ha Mphoras / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen."

Eine Abnahme der "Judensau" verweigerte die Kirche aber. Sie sieht darin "ein schwieriges Erbe, aber ebenso Dokument der Zeitgeschichte". Und es gebe ja seit 1988 ein Mahnmal dazu.

Düllmann reichte das nicht, er klagte vor dem Landgericht Dessau-Roßlau, wo er verlor, ebenso wie in der nächsten Instanz, am Oberlandesgericht Naumburg.

Am Dienstag erfolgte nun das Urteil des Bundesgerichtshofes, und der lehnte das Begehr Düllmanns auch ab.

"In Stein gemeißelter Antisemitismus"

Zwar liegt laut dem Vorsitzenden Richter des sechsten Zivilsenats, Stephan Seiters, im Relief "in Stein gemeißelter Antisemitismus" vor. Aber: "Es fehlt an einer gegenwärtigen Rechtsverletzung." Die Darstellung mit dem Schwein diente "zur Zeit seiner Entstehung dazu, Juden verächtlich zu machen, zu verhöhnen und auszugrenzen". Dies jedoch sei heute anders. Denn, so Seiters in der Urteilsbegründung: "Durch die Umwandlung des Schandmals in ein Mahnmal wird im Rahmen der notwendigen Gesamtbetrachtung dem Relief der rechtsverletzende Aussagegehalt genommen." Durch diese Umwandlung könne "eine Aufklärung und eine inhaltliche Auseinandersetzung ermöglicht werden, um Ausgrenzung, Hass und Diffamierung entgegenzutreten".

Gedenktafeln zerstört

Derartig verunglimpfende Darstellungen von Juden finden sich in Deutschland auch an rund dreißig anderen Kirchen. Nun müssen die Gemeinden prüfen, ob sie diese ausreichend erklären. Ob das letzte juristische Wort im Falle Wittenbergs schon gesprochen ist, ist unklar. Düllmann hat erklärt, er wolle notfalls das Bundesverfassungsgericht anrufen. Als Theologiestudent hat er sich übrigens 1968 in die Marienkirche in Wolfenbüttel (Niedersachsen) einschließen lassen, um die Gedenktafeln für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges zu zerstören. (Birgit Baumann aus Berlin, 14.6.2022)