"Und? Schaffen wir es heuer?" Horst Watzl ist manchmal ein ziemlich sturer Hund. Gut so. Denn wenn Watzl mich nicht seit (ich habe nachgeschaut) fünf Jahren immer ungefähr Mitte April fragen würde, ob sich heuer endlich mehr als ein "Ich würd' eh voll gern …" ausgeht, wäre ich am vergangenen Sonntag nicht in aller Herrgottsfrüh nach Wolkersdorf gefahren.

Ich hätte mich dort nicht auf ein Fahrrad, das nur geringfügig jünger als ich ist, gesetzt.

Ich hätte mir keinen bis oben hin geschlossenen, dicken, dichten, schwarzen Kurzarmskipullover aus fester Wolle (oder war es Loden?) angezogen – und wäre damit nicht 140 Kilometer durchs Weinviertel geradelt.

Ich hätte weniger geschwitzt und weniger geflucht.

Aber vor allem: Ich hätte viel weniger gelacht – und eine der schönsten Rennradveranstaltungen überhaupt schon wieder versäumt: In Velo Veritas nämlich.

Foto: Tom Rottenberg

In Wirklichkeit ist diese Geschichte sehr rasch erzählt. Denn Horst Watzl (im Bild links, gemeinsam mit Landschaftsplaner, Architekturkritiker & Rennradfieber-Autor Wolfgang Gerlich) hat mit Martin Friedl und Michael Mellauner vor mittlerweile zehn Jahren etwas sehr, sehr Schönes ins Leben gerufen: einen Rennradausflug, der kein Rennen, sondern eine gemeinsame Ausfahrt ist.

Wer schnell sein will, ist schnell – und wer vor lauter "need for speed" den Genuss zu kurz kommen lässt, selber schuld.

Doch diese Gefahr besteht hier, bei diesem Format, nicht. Weil Menschen, bei denen Sekunden oder Watt mehr zählen als ein sattes, glückliches und ansteckendes Lächeln, den Weg ins Weinviertel ohnehin nicht finden würden.

Foto: Tom Rottenberg

Denn dort, genauer: im niederösterreichischen Wolkersdorf, begann vor zehn Jahren die Geschichte des Vintage-Rides der drei Retro-Rad-Freunde.

Inspiriert von ähnlichen Events – etwa der mittlerweile von Italien bis nach Japan ausgetragenen Eroica-Serie –, beschlossen die drei Rennradsammler und -enthusiasten da nämlich, etwas Ähnliches auf die Beine zu stellen.

Ähnlich von der Grundidee her: nur schöne alte Räder (jünger als Jahrgang 1987 dürfen sie nicht sein) mit außenliegenden Brems- und Kabelzügen und ohne elektronischen Firlefanz zuzulassen – und darum zu bitten, dass auch die Outfits der Fahrerinnen und Fahrer diesem Retrospirit entsprechen mögen.

Foto: Tom Rottenberg

Doch Watzl, Friedl und Mellauner dachten noch einen Schritt weiter. Oder eigentlich: Sie dachten kürzer. Näher. Regionaler – tatsächlich: lokaler. Und so machten sie das Weinviertel zum eigentlichen Hauptdarsteller ihrer Ausfahrten.

Denn diese Region nördlich von Wien hat ein paar Eigenheiten, die Besucherinnen und Besucher vor allem auf dem Rad (auch auf modernen, da kann ich nämlich mitreden) richtig auffallen. Weil sie da deutlicher zur Geltung kommen, als wenn man mit dem Auto einfach durchbrettert.

Foto: Tom Rottenberg

Etwa diese seltsame Gleichzeitigkeit von bewohnt und doch leer: Natürlich gibt es im Weinviertel Orte und Dörfer. Aber man sieht dort fast nie Menschen. Es gibt jede Menge Straßen, aber kaum Verkehr – zumindest auf den Nebenstraßen. Und aus diesen Nebenstraßen, scheint es, besteht das Weinviertel: Sie verbinden die menschenleeren Dörfer mit einer endlosen Abfolge von Feldern, Wäldern und Windrädern und malerischen, rollend-sanften Hügeln. Wobei die sich, wenn man lange genug aus eigener Kraft über sie rollt, irgendwann sehr hoch und steil anzufühlen beginnen.

Foto: Michael Kofler

Denn auch wenn kein "Gipfel" des Weinviertels höher als 450 Meter ist, gibt es eben etliche von ihnen. Und auf einer Rundfahrt wie In Velo Veritas sammelt man Hügel um Hügel um Hügel um Hügel. Keiner tut wirklich weh, aber man spürt sie natürlich. Jeden anders. Und sie fühlen sich auch nie gleich, also so wie beim letzten Mal, an.

Dieses "Anders als zuletzt" ist aber auch eine der Eigenheiten dieser wunderschönen Veranstaltung: Die drei IVV-Macher hecken jedes Jahr andere Routen, andere Strecken aus.

Immer eine 70, eine 140 und eine 210 Kilometer lange. Immer mit ordentlich Höhenmetern (bei der 140er standen zum Schluss knapp 2.000 auf meiner Uhr.) Oft mit anderen Start- und Zielorten – aber immer mit wundervollen Aus- und Einblicken in eine der unterschätztesten Regionen Österreichs. Vermutlich liegt das Weinviertel einfach zu nahe an Wien, um touristisch richtig überrannt zu werden. Denn hierher zu fahren ist noch keine "echte" Reise – es sei denn mit dem Rad. Eigentlich ein Glück.

Foto: Tom Rottenberg

Freilich: Auch wer das Weinviertel mit dem Rad wirklich genießen können will, sollte eher entschleunigt unterwegs sein. Das – da spreche ich aus Erfahrung – geht aber am Rennrad oft und systemimmanent nur bedingt: Klar ist die Gegend schön, die Kellergassen sind idyllisch, und der Ausblick vom Buschberg ist ein Hammer. Aber dann hat man (also ich) halt doch wieder irgendwelche Zeit-, Strecken-, Tempo- oder sonstigen Pläne im Kopf oder am Display – und fährt weiter. Allein ebenso wie in der Gruppe.

Denn Pausen, sagt die Trainingslehre, sollen, wenn sie schon nötig sind, nicht länger als fünf Minuten dauern. Weil man sonst das System "runterfährt" – und man danach quasi wieder bei null beginnt.

Foto: ©Jamileh Azadfallah

Das macht Sinn, funktioniert gut und ist schlüssig, wenn man irgendein Ziel verfolgt. Um die Wette fährt. Sich auf einen Wettkampf vorbereitet. Oder sich und/oder der Welt etwas beweisen will. Oder muss.

Aber irgendwann stehen dann Watzl, Friedl und Mellauner da – und helfen beim Entschleunigen: Natürlich kann man mit Retrorennern auch hart und schnell fahren – aber jede und jeder, der das wegen der Ergebnisse tut, weiß, dass ein modernes Rad ganz anders "performen" würde.

Natürlich kann man auch mit einem dicken schwarzen Kurzarmwollpulli bei 28 Grad Berge hinaufsprinten. Aber jeder und jede, die so etwas tut, weiß, dass das Kochen im eigenen Saft Kraft, Energie und Elan kostet.

Darum gilt: Wer so unterwegs ist wie jene insgesamt 800, die letztes Wochenende das Weinviertel so beradelten, sucht etwas anderes.

Und findet es auch.

Foto: Michael Kofler

Denn dort, wo es nicht darum geht, Zeit "gutzumachen", indem man Sekunden und Minuten einspart, ist eines klar: Man hat immer so viel die Zeit, wie man sich nimmt. Die man sich gönnt. Auch weil es einen Grund dafür gibt.

Und genau den gibt es hier. Mehrfach sogar: Was anderswo unter dem Begriff "Labe" in der Regel (und mit Gründen, da man eilt und nicht verweilt) eine Überreichstelle für Wasserflaschen und Iso-Riegel ist, erreicht bei In Velo Veritas mitunter bacchantische Dimensionen.

Hätte es im Flandern des 16. Jahrhunderts bereits Fahrräder, Rennräder gegeben, hätte Pieter Bruegel sie wohl in seinen opulenten Festmahlgemälden festgehalten.

Foto: Tom Rottenberg

Denn nicht ohne Grund schreibt die Bikeboard-Redakteurin und Rad-Edelfeder Lisi Hager (im Bild rechts) von "Radlerfallen", wenn sie im aktuellen IVV-Magazin die Laben des Weinviertels besingt: "Wo sich Speisekarten der Tageszeit anpassen, vergorene wie unvergorene Säfte aus scheinbar unerschöpflichen Quellen sprudeln und Bäume lauschigen Schatten spenden, ist die Verlockung, einfach sitzen zu bleiben, groß."

Foto: Michael Kofler

Hager hat nicht nur recht, sie untertreibt. Und hat vor allem mit der letzten Zeile dieser Strophe ihrer Eloge recht: "Ein Weg, dem Überfluss zu entrinnen, existiert im Weinviertel nicht."

Klar: Man könnte einfach weiterfahren. Tut man dann auch – schließlich kommt in 30 oder 40 Kilometern die nächste Labe.

Foto: Tom Rottenberg

Dazwischen wird natürlich auch geflucht. Und auch hart gekämpft. Aber eben immer gemeinsam – und nur gegen sich selbst.

Denn wenn sich hinter einer Kurve die Landschaft als Ganzes doch plötzlich – schon wieder – 14 und mehr Grad steil aufkantet, fehlt nur allzu oft jene Viertelsekunde, die am "normalen" Renner vollkommen ausreicht, um mit einem seitlichen Antippen des Bremshebels runterzuschalten: IVV-Bikes haben die Schalthebel am Rahmen – man sollte diese Hebel präzise in Position bringen. Und die Übersetzungen von "damals" sind … na ja.

Foto: Michael Kofler

Ja eh: Damals, in den 1970er- und 1980er-Jahren, fuhr man mit sowas den Großglockner. Oder die Tour de France. Aber vermutlich sind die Berge seit damals einfach steiler geworden. Bestimmt.

Foto: Tom Rottenberg

Aber in Wirklichkeit ist das ja egal. Weil es im Hier und Jetzt einfach so wunderschön ist, mit diesen Rädern durch diese Gegend zu fahren – und dabei all diesen glücklich lachenden (und natürlich schon auch fluchenden, das gehört dazu) Menschen zu begegnen.

Foto: Michael Kofler

Männern und Frauen jeden Alters, die hier ihre liebevoll gestalteten und gefalteten, analogen Teilnehmer:innenpässe an den Kontrollstellen aus den Taschen fudeln. Die dabei keine Sekunde darüber nachdenken, ob es heute nicht einfachere, präzisere oder "zeitgemäßere", weil elektronische, Kontrollmethoden als das analoge Abstempeln gäbe.

Foto: Michael Kofler

Und die es anderswo wohl als "Zumutung" empfinden würden, wenn es statt gpx-files, statt Strava-, Komoot- oder Garmin-Connect-Routen den schlichten Hinweis auf an relevanten Stellen auf die Straße gesprühte orange Pfeile gäbe: Hier passt das nicht nur, sondern ist perfekt. Anders, "heutiger", würde es sich falsch anfühlen.

Foto: Tom Rottenberg

Das gilt genauso für die Routen: Anderswo wird bereits gemotzt und getrotzt, wenn von 180 Kilometern purem Asphalt eineinhalb ein bisserl rauer, ein bisserl rumpeliger sind: Das mache, heißt es dann, die sauteuren Hochprofilfelgen kaputt. Die Lager. Den Rahmen. Die Reifen. Und überhaupt: Dafür gibt es doch Spezialräder. Gravelbikes.

So, als würden moderne Räder weniger aushalten als Oldtimer der 1970er- und 1980er-Jahre mit ihren geklebten Schlauchreifen – auf denen es hier über Stock und Stein, quer durch den Wald, durch Schotter und Schlamm, durch Schlaglöcher und vom Gewitter von vorgestern ausgespülte Wanderwege geht.

Foto: Tom Rottenberg

Das geht. Und noch mehr. Wenn man statt zu lamentieren tut, wozu man hier ist: fahren.

Bewusst. Respekt- und rücksichtsvoll. Sich selbst, den anderen, dem Gerät und dem Material, aber auch dem Weg gegenüber. Weil der sich durchaus "wehrt", wenn man einfach alles niederbügelt.

"Achtsamkeit" nennt man das auf Neusprech. Manche Menschen geben dafür viel Seminargeld aus. Dabei würde es oft schon reichen, mit einem alten, wunderschönen Rad über einen rumpeligen Waldweg zu fahren: Nein, wirklich schnell werden Sie da vermutlich nicht unterwegs sein. Aber umso bewusster – und das ist viel wert. Weil Sie dabei viel mehr als Fahren lernen.

Foto: Tom Rottenberg

"Und? Schaffen wir es heuer?"

Horst Watzl ist manchmal ein sturer Hund. Das ist gut so.

Denn wenn Watzl mir nicht seit fünf Jahren regelmäßig Mitte April diese Frage gestellt hätte, wäre ich heuer wohl wieder nicht dabei gewesen.

Hätte mir nicht von ihm eines seiner wunderschönen restaurierten Rennräder ausborgen dürfen, hätte von einem Bekannten nicht diesen dicken, absolut luftundurchlässigen, schwarzen Kurzarmpulli übergezogen bekommen ("Dein Funktionszeug hat hier nix zu suchen"), wäre nicht schwitzend, dampfend und fluchend 140 Kilometer und 2.000 Höhenmeter bei 28 Grad durch die Wälder und über die Hügel des Weinviertels gerollt.

Foto: Tom Rottenberg

Aber vor allem: Ich hätte dabei nicht all diese wundervollen Verrückten getroffen, die ebenfalls bei In Velo Veritas unterwegs waren – und an diesem Tag einfach nur glücklich waren.

So wie ich. (Tom Rottenberg, 14.6.2022)


Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Teilnahme an In Velo Veritas war eine Einladung der Veranstalter. Das Fahrrad wurde mir von Horst Watzl zur Verfügung gestellt. Ich habe es ihm nach der Fahrt unbeschädigt (und schweren Herzens) wieder zurückgegeben.

Foto: Tom Rottenberg