Ruslan Stefantschuk (links) wurde auch vom österreichischen Bundespräsidenten Alexander van der Bellen in Wien empfangen.

Foto: APA/HBF/CARINA KARLOVITS

Nach der Debatte im März, ob eine Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor Österreichs Parlamentariern mit der Neutralität vereinbar sei – FPÖ und SPÖ hatten Bedenken angemeldet –, ist es am Dienstag doch noch zu einer ukrainischen Ansprache im Nationalrat gekommen. Zwar durfte sich nicht der Präsident des von Russland überfallenen Landes an die österreichischen Volksvertreter wenden, aber mit dem Parlamentspräsidenten Ruslan Stefantschuk immerhin die Nummer zwei des ukrainischen Staatsapparats.

Der Vorsitzende der Werchowna Rada bedankte sich bei Österreich für die Aufnahme von 70.000 ukrainischen Kriegsflüchtlingen. Die Ukraine verteidige seit 111 Tagen nicht nur das eigene Land, sondern auch Europa, sagte Stefantschuk und warnte, dass die Neutralität keinen Schutz vor einer Aggression biete. Schweden und Finnland hätten deswegen ihre Position überdacht. Wer glaube, dass der Krieg weit weg sei, der irre.

Russland führe hybride Kriege, die in verschiedene Phasen gegliedert seien. Anfangs erfolge die Verbreitung von Propaganda, danach folgten der Kauf von Politikern und die Schaffung einer wirtschaftlichen Abhängigkeit durch das Geschäft mit fossilen Energieträgern. Erst in der dritten Phase kämen die Panzer. Die Ukraine sei in der dritten Phase, Europa in der zweiten.

Blick nach Brüssel

Stefantschuk warb dafür, seinem Land rasch den Status als EU-Beitrittskandidat zuzugestehen. 91 Prozent der Ukrainer wünschten den Beitritt, während 66 Prozent der Europäer die Eingliederung des Landes befürworteten, strich der Parlamentspräsident heraus. Vier Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges biete sich der EU beim Gipfel am 24. Juni "die einmalige Chance, eine würdige Antwort zu geben" und den Gang der Geschichte zu wenden.

Nach Stefantschuks Rede durften Vertreter aller Parlamentsparteien Statements abgeben. Allein die FPÖ boykottierte die Veranstaltung, die ihr Chef Herbert Kickl als "Missbrauch des Parlaments als Bühne für Propaganda einer Kriegspartei" einstufte.

Russland plant Fluchtkorridor

In der Ukraine tobt der Krieg unterdessen mit unverminderter Brutalität weiter. Österreich kritisierte am Dienstag, dass Russland Streumunition einsetze. Die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten sei eine völkerrechtliche Pflicht, erklärte Außenminister Alexander Schallenberg.

Die russische Armee kündigte "Fluchtkorridore" für Zivilisten an, die sich in der umkämpften Stadt Sjewjerodonezk in der Asot-Chemiefabrik verschanzt haben. Die Zivilisten sollen in ein von den Luhansker Separatisten kontrolliertes Gebiet gebracht werden, während die ukrainischen Truppen den "absurden Widerstand" aufgeben sollen, erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau. Auf dem Werksgelände haben mehr als fünfhundert Einwohner der Stadt Zuflucht gefunden, das Gebiet steht unter russischem Dauerbeschuss.

Angebliche Söldner

In der Angelegenheit der von den Donezker Separatisten zum Tod verurteilten angeblichen Söldner erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, die Separatistenführer seien bereit, einen Appell Großbritanniens anzuhören. London habe sich aber nicht an Moskau gewandt. Vergangene Woche waren in Donezk zwei Briten und ein Marokkaner wegen "Söldnertätigkeit" verurteilt worden. Die Familien bestreiten den Vorwurf. Großbritannien hat bisher offiziell keinen Kontakt mit den Separatisten aufgenommen, da dies als eine De-facto-Anerkennung des Regimes interpretiert werden könnte. Den Prozess verglich London mit einem sowjetischen Schauprozess.

Zum wiederholten Male hat Moskau Europa mit einer "nuklearen Apokalypse" gedroht, wenn der Ukraine Raketen geliefert würden. Der russische Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin erklärte, dass Europa in diesem Falle "verschwinden" werde.

Polens Außenminister Radosław Sikorski hatte zuvor in einem Interview von der Unterstützung Kiews mit Raketen zur Verteidigung gegen Russlands Angriffe gesprochen. Russlands Präsident Wladimir Putin habe gegen das Budapester Memorandum über Sicherheitsgarantien von 1994 verstoßen, was sogar die Lieferung von Atomwaffen durch den Westen rechtfertigen würde. Sikorski wies darauf hin, dass Putin der Ukraine mit Atombomben gedroht habe. (Michael Vosatka, 15.6.2022)