Ohne ihn wären Siri und Alexa aufgeschmissen: Sepp Hochreiter forscht an der Uni Linz zu künstlicher Intelligenz und kritisiert Österreichs KI-Ambitionen scharf.

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Sepp Hochreiter ist es zu verdanken, dass Handys uns verstehen. Seine Erfindung läuft weltweit auf Milliarden digitalen Geräten. Wann immer es um Text- oder Sprachverständnis geht, ist die Erfindung des deutschen Informatikers dabei. Apples "Siri", Androids Spracheingabesystem "Ok Google" und Amazons "Alexa" funktionieren nur dank der Forschung des an der Uni Linz arbeitenden Wissenschafters. Die in der oberösterreichischen Landeshauptstadt entstehende TU für Digitalisierung, die am Mittwoch im Ministerrat unter dem Namen "Institute of Digital Studies Austria" beschlossen wurde, hält er für eine verhängnisvolle Fehlkonstruktion. Umzingelt von Abwerbeangeboten aus dem Ausland, erklärt er, warum ihm forschungspolitisch hierzulande gerade "zum Weinen" ist.

STANDARD: Was sagen Sie zur geplanten universitären Neugründung in Linz?

Hochreiter: Wenn jetzt zumindest das Wort "technisch" nicht mehr vorkommt, dann ist das dem, was im Konzeptpapier steht, schon wesentlich näher. Aber ich bin noch immer verwundert darüber, dass so alles, was mit Computer zu tun hat oder für Digitalisierung zentral ist, also etwa künstliche Intelligenz oder Informatik, völlig ignoriert wird. Man macht Digitalisierung ohne Digitalisierung ... Dafür soll es Studiengänge und Professoren für Kreativität geben. Aber Universitäten haben ein anderes Prinzip. Da wird Wissen an Studierende vermittelt, das über Jahrzehnte, oft Jahrhunderte aufgebaut wurde, aus der Praxis und der Theorie. Wenn ich ein ganz neues Fach habe, gibt es noch kein Wissen, das ich in einem neuen Studiengang vermitteln kann. Wenn man die Fächer nicht hat – in Linz war ja die Rede davon, man braucht keine Mathematik, keine Physik, keine künstliche Intelligenz –, dann kann ich den Studierenden nichts vermitteln, weil zu den neuen Sachen hat sich ja noch kein Wissen angesammelt. Das ist das erste Fehlkonzept.

STANDARD: Wo sehen Sie noch weitere Fehler in der Konzeption?

Hochreiter: Das zweite Fehlkonzept ist: Wenn ich ganz neue Fächer angehe, dann gibt es auf dem Markt keine Leute, die das studiert haben. Das heißt, ich kriege keine exzellenten Leute. Das sind ja die, die die traditionellen Sachen studiert haben wie Informatik, Physik, Mathematik oder Statistik. Wenn ich sage, die möchte ich jetzt alle nicht haben, werde ich auf dem Markt niemanden für die neuen Fächer finden, oder wenn, dann eher die, die noch nicht gezeigt haben, dass sie exzellent sind. Wenn ich aber in Richtung Exzellenz gehe, dann muss ich mich an den Exzellenten messen – die aber schon in den bestehenden Fächern arbeiten. Digitalisierung wirklich ohne KI, Computer und Informatik machen zu wollen, finde ich höchst erstaunlich. Und in Deutschland wird schon darüber gelacht, was das für ein Blödsinn ist.

STANDARD: Sie haben in einem KI-Podcast angedeutet, dass Sie überlegen, Ihre Koffer zu packen und aus Österreich, von der Uni Linz, wegzugehen, weil Sie über die geplante TU "in der Nachbarschaft" – sie soll ja auf dem Campus der Uni Linz entstehen –, in der die KI nicht einmal erwähnt wird, so enttäuscht und sauer sind.

Hochreiter: Mir wird von vielen Seiten in Deutschland gesagt: Geh zurück, wenn die so einen Blödsinn machen, komm zurück nach Deutschland. Der Ministerpräsident von Brandenburg will mit mir sprechen, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg und das Bundeskanzleramt in Berlin bemühen sich, mir Angebote zu machen. Das ist alles in der Schwebe. Auch private Institutionen wie die Hasso-Plattner-Stiftung oder das Hector-Institut haben mich kontaktiert, weil sie mitbekommen haben, wie schief das hier läuft.

STANDARD: Wie hätten Sie denn so ein universitäres Projekt rund um das Thema Digitalisierung aufgesetzt? In welcher Form würden Sie es in die österreichische Hochschullandschaft integrieren? Allein von den Summen her wirkt es suboptimal. Die neue TU in Nürnberg im Nachbarland Bayern startet mit einem Investitionsbudget von 1,2 Milliarden Euro. Die zwei ETHs in Zürich und Lausanne haben miteinander 1,9 Milliarden Euro Budget zur Verfügung, die Digital-Uni Linz soll im Jahr 150 Millionen erhalten.

Hochreiter: Ich bin ja im Vorstand des ELLIS-Netzwerks, des European Laboratory for Learning and Intelligent Systems. Diese KI-Institute werden gerade neu aufgesetzt. In jenes in Tübingen sind 100 Millionen Euro von der Hector-Stiftung geflossen, Bund und Länder geben jährlich noch zehn bis 20 Millionen dazu. Die ETH Zürich wird 200 Millionen, auch mit privaten Stiftungen, für ein ELLIS-Institut zusammenbringen. Kopenhagen hat gerade mit 45 Millionen etwas gemacht, London hat das Alan Turing Institute, in Helsinki gibt es ein KI-Institut. Überall werden gerade KI-Institute aufgebaut, weil es einfach wichtig ist, weil Nachfrage ist, weil die Firmen das brauchen, weil die Industrie auf diese neue Technologie setzt. Und in der KI-Strategie in Österreich haben wir genau sieben Millionen Euro österreichweit! Die Niederlande haben 2,1 Milliarden Euro dafür aufgesetzt, Deutschland fünf Milliarden. Fünf Milliarden und sieben Millionen – das ist halt schon ein Unterschied. Dabei waren wir vorne dabei.

STANDARD: Aber was ist passiert?

Hochreiter: Wir hatten hier in Linz in der ersten Runde eine ELLIS-Unit. Das war quasi ein Skandal europaweit, dass Österreich so weit vorne ist in der KI. Dass das kleine Linz, das eh keiner kennt, eine ELLIS-Unit bekommt, schien völlig absurd. Cambridge hat's nicht geschafft, München und Berlin haben's nicht geschafft, Oxford erst beim zweiten Anlauf. Jetzt gibt's die nächste Runde, und wir sind komplett zurückgefallen. Wir sind weg vom Fenster. Für so ein ELLIS-Institut braucht man mindestens 30 Millionen Euro pro Jahr als Finanzierung.

Statt dass man das, wo wir schon jetzt gut sind und was alle anderen nachmachen, ausbaut und fördert, hat man das mit dieser neuen Uni alles in den Mülleimer getreten oder zerschossen. Denn wenn man jetzt schon eine TU macht um 150 Millionen, dann ist es eher unwahrscheinlich, dass man dann noch ein zweites ELLIS-Institut schafft, für das man auch 50 Millionen Euro braucht. Das ist jetzt eine vergebene Riesenchance, und ich bin traurig, dass wir die KI-Führung peu à peu verloren haben. Mit der TU hätten wir das retten können, weil es genau im Zentrum der Digitalisierung ist – und dann kommt so was raus. Es ist zum Weinen.

STANDARD: Es geistert auch der Plan herum, dass man die digitallastigen Filetstücke aus der Uni Linz herausschneidet und in die Digital-Uni nach nebenan verschiebt. Also etwa KI oder Mechatronik. Wäre das für Sie vorstellbar, oder blieben dann erst recht zwei Rumpfunis, und es wäre auch wieder nichts gewonnen?

Hochreiter: Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, kann ich mir das schon vorstellen. Ich möchte bloß die Möglichkeit haben, wirklich in Hochqualität zu forschen und an der Spitze weiterzumachen. Wenn es da irgendwelche Einschränkungen gibt, und ich bin nicht mehr in den besten Journalen oder Konferenzen vertreten, dann nicht. Ob da außen an der Tür JKU oder irgendeine andere Uni steht, ist mir nicht so wichtig.

STANDARD: Welche Länder oder Städte machen es denn derzeit forschungspolitisch besser als Österreich?

Hochreiter: Amsterdam zum Beispiel macht es uns super vor. Da ist jetzt Microsoft hingegangen, Facebook bzw. Meta ist dort, Amazon geht jetzt auch hin. Die haben mehr und mehr Firmen angezogen, über hundert Firmen unterhalten in Amsterdam Forschungslabs. Da ist die Hölle los. Das haben wir verpasst. Viele Firmen wissen gar nicht, was künstliche Intelligenz ist. Zu mir kommen immer wieder Leute, die ich wegschicken muss. Allen Start-ups, die was machen möchten, sage ich, bitte verlasst Österreich, wir können euch hier nicht helfen, geht nach München, nach Amsterdam, ins Cyber Valley Tübingen oder nach Helsinki. Wir können diese Arbeit nicht leisten, wir haben zu wenig staatliche Finanzierung, um beratend tätig zu sein, um zu sagen, hey, in eurer Firma könnt ihr das und das machen. Wir haben jetzt ein paar Kooperationen mit OMV oder Borealis, aber meistens sind das internationale Firmen wie Audi oder Pharmakonzerne. Die lokalen Firmen und Start-ups müssen wir wegschicken, weil wir einfach die Kapazitäten nicht haben.

STANDARD: Was bräuchte es da?

Hochreiter: Ich fordere von der Politik schon lange so ein Institut, bei dem es nicht rein um Forschung geht, sondern auch darum, die Firmen zu beraten. So ein KI-Institut müsste ganz nah an der Uni und an den Firmen sein, sodass Leute, die irgendeine Idee haben, etwas erforscht haben, das dann direkt in die Firma übertragen und dort Richtung Produkt weitertreiben können, vielleicht sogar im selben Büro – und wenn es dann läuft, vielleicht wieder zur Uni zurückkehren. So was passiert gerade in Amsterdam, dass Forschungslab-Leiter zu einer Firma gehen und wieder zurückkommen.

Die machen das großartig, da ist so richtig Vibe, da ist Vibration, da geht's voll ab. Die Leute sind begeistert. Ich habe eine Idee, habe schon publiziert, und jetzt kann ich das in einer Firma in die Praxis umsetzen, und wenn ich damit fertig bin, gehe ich wieder zurück in die Forschung. KI-Technologien brauchen diese nahe Beziehung, weil sie sehr schnell in die Produkte eingehen können oder sollten. Das heißt, man muss da enger zusammenarbeiten und nicht über Jahre an einem Forschungsprojekt arbeiten, weil da sind die Themen schon wieder komplett anders.

So etwas brauchen wir dringend: ein Institut, um die Firmen zu beraten und ihnen zu helfen, diese neue Technologie in ihre Firma hineinzubringen, aber ihnen auch zu sagen, wann es nicht sinnvoll ist, weil ganz oft ist es Blödsinn, bloß weil es neu oder ein Hype ist. Das fehlt hier, und deswegen ist die KI nicht in den Firmen drin, während woanders dafür Milliarden Euro in die Hand genommen wurden, um das zu machen. Das wird noch ein großer Schocker sein, dass Firmen, nicht in allen Branchen, stark zurückgefallen sind oder nicht einmal merken, dass sie die Marktführung jetzt verlieren werden.

STANDARD: Ist das auch ein Mangel der neuen Uni, dass sie de facto ohne harte Grundlagenforschung auskommen will? Sie betonen jetzt ja sehr, dass Innovation unbedingt Grundlagenforschung braucht, und zwar ganz nah dran an den Firmen, wenn es funktionieren soll. Viele große Erfindungen, die wir heute alle nutzen, sind ja aus der zweckfreien Grundlagenforschung entstanden. Sie selbst haben ja eine global genutzte Erfindung gemacht, ohne die Amazon oder Google nie so erfolgreich wären, wie sie sind ...

Hochreiter: Ich habe das LSTM, das Long Short-Term Memory (ein dem Gehirn nachempfundenes Speichersystem, Anm.,) erfunden, das zum Beispiel in jedem iPhone verwendet wird. An der Uni Linz wiederum haben wir SELU erfunden, eine neue Art künstlicher neuronaler Netze. Zu der hat uns Amazon gesagt: Vielen Dank, wir haben eine Milliarde Dollar Umsatz mehr gemacht mit eurer Erfindung, weil euer System aus Linz bei der automatischen Übersetzung unserer Produkte schneller war. Es war in dem Fall die Schnelligkeit, daran haben wir gar nicht gedacht, dass das so einen Riesenunterschied für die bei Amazon macht. Oder der Apple-Chefentwickler für Siri hat uns eine E-Mail geschrieben: Vielen Dank, dass ihr in Linz das erfunden habt. Das hat Apple ganz schön weit nach vorne gehaut.

Also wir erfinden hier an der JKU Sachen, die Apples Siri nach vorne gebracht haben oder in Alexa stecken. Eine Milliarde Umsatz für Amazon – durch unsere Technik! Und da denke ich mir, hätte man die nicht lokal aufgreifen können? Genau da sehe ich das Institut, das ich mir wünschen würde. Es fehlt lokal das Gefühl, wie man KI einsetzen kann, was sinnvoll ist. Amazon oder Apple haben genug Leute, um zu sehen, welche Goldstücke hier in Linz produziert werden, aber ich möchte die Goldstücke nicht hier in Linz erfinden und dann nach Amerika verschenken, sondern wenn wir hier Goldstücke produzieren, dann sollten das die lokalen Firmen nehmen. Aber dazu muss ich sie auf den Stand der Wissenschaft bringen. Diese Chance wurde leider vertan. (Lisa Nimmervoll, 16.6.2022)