Seit 2013 ist die mit zwei Teleskopen ausgestattete Raumsonde Gaia unterwegs und scannt das Weltall unentwegt nach Sternen, interstellarem Staub und anderen Objekten.

Foto: ESA/ATG Medialab/ESO/S.Brunier

Jahrelang war in der astronomischen Wissenschaftsgemeinde auf diesen Moment hingefiebert worden. Montagmittag war es schließlich so weit. Die europäische Weltraumorganisation Esa gab das dritte und bisher umfangreichste Datenpaket des Weltraumteleskops Gaia zur Milchstraße frei, das seit Ende 2013 das Weltall scannt. Die nun verzeichneten 1,8 Milliarden Sterne zeichnen nicht nur das bislang detaillierteste Bild unserer Heimatgalaxie, sondern werfen dabei auch einige gängige Theorien über den Haufen.

Suche nach Spiralarmen

"Bisher ging man davon aus, dass die Milchstraße eine Spiralgalaxie mit einem sogenannten Grand Design ist – also zwei klar definierte symmetrische Spiralarme. Die Gaia-Daten deuten aber darauf hin, dass die Ausprägung eher dem Flocculent-Spiral-Muster folgt, die Struktur der Arme also deutlich zerrissener und chaotischer sein dürfte", erklärt João Alves, Professor am Institut für Astrophysik der Universität Wien, im Interview mit dem STANDARD.

Die Beobachtung und Erfassung unserer eigenen Galaxie gelte ironischerweise als besonders herausfordernd, da wir uns in ihr befinden und es aus dieser Position heraus schwieriger sei, sich einen klaren Überblick zu verschaffen. "Gaia ist wie eine unglaubliche Pralinenschachtel, die stets unerwartete Überraschungen bereithält", kommentiert Alves. Die bisherigen Erkenntnisse seien aber schon jetzt so weitreichend, dass sie vieles infrage stellen würden, was man von der Milchstraße angenommen habe.

European Space Agency, ESA

Neben den genauen Standorten der Sterne gibt es nun auf Basis der spektroskopischen und photometrischen Teleskop-Sensoren weitreichende Informationen hinsichtlich der chemischen Zusammensetzung, Temperatur, Farbe und Masse vieler Sterne. Aber auch deren Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit relativ zur Erde und zu unserem Sonnensystem wurden erfasst.

Um die Geschichte unserer Galaxie und die Formation von Sternen und ihren planetaren Systemen besser zu verstehen, spielen auch die Gas- und Staubwolken eine wichtige Rolle, deren Ansammlungen und Bewegungen ebenfalls aus den Gaia-Daten abgeleitet werden können.

Gaia entdeckt Millionen Galaxien und Quasare

Doch der interessante Blick auf die Milchstraße ist nicht alles, was das Weltraumteleskop auf seiner Mission aufschnappt. So finden sich in den aktuellen Daten auch Informationen zu 2,9 Millionen Galaxien außerhalb der Milchstraße und 1,9 Millionen Quasaren. Dabei handelt es sich um besonders hell leuchtende Kerne von Galaxien, in deren Zentrum sich nach heute gängiger Theorie ein supermassives Schwarzes Loch befindet. Darüber hinaus erscheint nicht zuletzt durch die chemische Klassifizierung vieler Sterne und deren Position klar, dass viele Objekte in unserer Galaxie ursprünglich nicht hier "geboren" wurden, sondern aus fremden Galaxien stammen und schließlich von der Milchstraße einverleibt wurden.

Auch unser Sonnensystem könnte indirekt auf einen solchen Vorgang zurückzuführen sein. Einige Hinweise im Gaia-Datenmaterial legen nämlich nahe, dass eine nahe Passage einer Zwerggalaxie die Entstehung unserer Sonne vor etwa 4,5 Milliarden Jahren ausgelöst haben könnte. Den Forschenden zufolge wirft die chemische Zusammensetzung der Sonne zudem die Frage auf, ob sie eigentlich woanders entstanden ist, weil sie kaum zu den meisten nun kategorisierten benachbarten Objekten passt.

Die Sterne der Milchstraße sind nach ihrer chemischen Zusammensetzung eingefärbt.
Foto: ESA/Gaia/DPAC

Neben den erwarteten Sternenpositionen finden sich in den Daten auch Hinweise auf spannende seismologische Phänomene wie etwa Sternenbeben, die bei einigen der erfassten Objekte theoretisch eigentlich gar nicht vorkommen sollten. "Derartige Beben, die wir als Aufflackern der Sterne wahrnehmen, liefern wertvolle Daten zur inneren chemischen Zusammensetzung, aber auch zu ihrer inneren Bewegung", erklärt die Astroseismologin Conny Aerts von der Universität Leuven. Gaia habe bereits 100.000 derartige flackernde massereiche Sterne entdeckt. Diese Informationen sind essenziell, um mehr über den Entstehungsort der Sterne, aber auch deren Reise in der Milchstraße zu erfahren.

Einige Theorien wackeln

Ob einige der nun wackelnden Theorien verworfen werden müssen, werden die Auswertungen der kommenden Jahre zeigen. Denn auch wenn der Start des Teleskops bereits eine Weile zurückliegt, sind aktuell mit dem dritten Datenpaket gerade einmal die Informationen verfügbar, die bis Mai 2017 erhoben wurden. Nachdem Gaia noch bis mindestens 2025 Daten sammeln soll und über die Jahre noch präzisere Daten liefern wird, werden die verfügbaren Informationen die Wissenschaft noch mindestens ein Jahrzehnt und darüber hinaus auf Trab halten.

Schon jetzt werden im Schnitt fünf wissenschaftliche Arbeiten pro Tag auf Basis der Gaia-Daten publiziert. Laut der Esa, zu der auch Österreichs Klimaschutzministerium jährlich finanzielle Beiträge leistet, sind das bereits mehr Publikationen, als es das ungleich bekanntere Weltraumteleskop Hubble hervorbringt. Nun, nach der Veröffentlichung des dritten vollständigen Datensets, erwartet Esa-Direktor Josef Aschbacher eine weitere "Schleusenöffnung für die Wissenschaft und das Verständnis über die Milchstraße", wie er es am Montag bei der Präsentation formulierte.

Asteroiden und Exoplaneten

Neben den 1,8 Milliarden Sternen wurden zudem etwa 800.000 Doppelsternsysteme katalogisiert. Darüber hinaus wurden über 156.000 Asteroiden erfasst und kategorisiert, die ebenfalls wichtige Hinweise auf den Ursprung des Sonnensystems bieten. Allein 400 davon kreuzen die Erdbahn, ihre Bahn wird deshalb besonders genau beobachtet.

Das Bild zeigt die Bahnen von 150.000 Asteroiden in Relation zu unserer Sonne.
Foto: ESA/Gaia/DPAC

Auf der Suche nach Exoplaneten wurden die Forschenden ebenfalls fündig. Bereits zwei wurden bestätigt, 200 potenzielle Kandidaten müssen nun geprüft werden. Für die nächste Datenpublikation, das vierte Gaia-Datenset, dessen Zeitpunkt noch nicht feststeht, rechnen die Forschenden sogar mit zehntausenden möglichen neuen Exoplaneten, die in unserer Galaxie entdeckt werden.

Im Datentsunami

Als zunehmende Herausforderung für die Wissenschaft erweisen sich die enormen Datenmengen, die bei Missionen wie Gaia anfallen. Allein der am Montag zur Verfügung gestellte Datensatz beläuft sich auf zehn Terabyte und wurde in 90 Kategorien unterteilt. "Je mehr Daten wir bekommen, desto schwieriger wird die Verarbeitung. Gleichzeitig entsprechen die 1,8 Milliarden Sterne gerade einmal einem Prozent der in der Milchstraße vorhandenen Sterne", sagt Gaia-Projektwissenschafter Timo Prusti im Gespräch mit dem STANDARD. Man versuche folglich einen technischen Balanceakt, um mit einer möglichst repräsentativen Auswahl ein gutes und repräsentatives Abbild der Milchstraße erreichen zu können.

Die enormen Datenmengen – als Problem habe sich weniger die Verarbeitung als die Übertragung zu den Forschenden erwiesen – würden aber technische Innovationen begünstigen. Neben mehr Rechen- und Speicherleistung werde künstliche Intelligenz zum Finden forschungsrelevanter Ergebnisse künftig eine immer größere Rolle spielen, zeigt sich auch Günter Hasinger, wissenschaftlicher Direktor der Esa, überzeugt.

Computerwissen gefragt

Dass sich die Rolle und das Anforderungsprofil für angehende Astronominnen und Astronomen gerade grundlegend veränderten, stellt auch Astrophysiker João Alves im Interview nicht in Abrede: "Es ist in der Tat so. Wir werden viele Computerwissenschafterinnen und -wissenschafter brauchen, die sich mit Datenwissenschaft und Machine-Learning auskennen und sich darüber hinaus für Astronomie interessieren." Dieser Paradigmenwandel betreffe aber viele andere wissenschaftliche Disziplinen auch, für die sich die vorhandene Datenflut ebenfalls als Segen und Fluch zugleich erwiesen habe, um die essenziellen Informationen zu einer speziellen Fragestellung zu finden.

Gerade die scheinbar endlosen Weiten des Weltalls scheinen prädestiniert, um sämtliche Datenrekorde purzeln zu lassen. Denn abgesehen davon, dass die knapp zwei Milliarden von Gaia erfassten Sterne gerade einmal ein Prozent unserer Galaxie umfassen, gehen Forschende davon aus, dass es neben der Milchstraße weitere hunderte Milliarden Galaxien gibt. "Natürlich kann man jetzt sagen, dass auch das eine Prozent unserer Galaxie nur ein winziger Ausschnitt ist. Aber es ist ein guter Anfang und nun einmal das Beste, was wir im Moment zur Verfügung haben", sagt Alves. (Martin Stepanek, 18.06.2022)