Da sage noch jemand, Skateboarden sei keine Kunst: Das Baan Noorg Collaborative Arts and Culture aus Thailand auf der Documenta.

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Wo normalerweise Fußballspiele stattfinden, passten sich in Kassel die Mitglieder der Ruangrupa am Mittwoch die Bälle zu. Das Kollektiv aus Jakarta, das dieses Jahr kuratorisch für eine der wichtigsten Kunstaustellungen der Welt, die Documenta, verantwortlich zeichnet, hat im Rahmen der Pressekonferenz zur Documenta 15, die am Samstag offiziell eröffnet, auf einer Bühne im Auestadion Platz genommen und winkt vergnügt ins Publikum. Der Fanblock ganz rechts jubelt begeistert zurück, er besteht aus den Teilnehmenden an der Documenta 15.

Zahlreiche Journalistinnen und Journalisten sind zu den Vorbesichtigungstagen nach Kassel gekommen, um herauszufinden, was es mit diesem Lumbung auf sich hat. Obwohl die Documenta kein offizielles Motto hat, ist Lumbung, ein indonesisches Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, zumindest das inoffizielle.

Bevor Ruangrupa am Wort ist, kümmern sich Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle und die hessische Hessische Kunst- und Wissenschaftsministerin Angela Dorn um den Elefanten im Raum. Beide betonen das Existenzrecht Israels – im Vorfeld der Documenta waren antisemitische Vorwürfe gegen ein geladenes Künstlerkolletiv und auch Teile der Ruangrupa laut geworden. Großteils wird aber über die Ausrichtung von Ruangrupa gesprochen: Besonders Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann lobt das Kollektiv über den grünen Klee und versucht einer Kritik, die diese Documenta wohl treffen wird, gleich vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen: "Bei Ruangrupa ist das Ziel nicht das Kunstwerk, sondern die Kooperation selbst."

Sesselkreise statt Bildern

Was sie damit meint, wird ersichtlich, wenn man einen der Hauptausstellungsorte, das Fridericianum, betritt. Statt dort "die geilste Kunst aus dem globalen Süden", zu zeigen, sich ein bisschen mit dem Westen zu messen, wirkt das Museum nun eher wie eine Waldorfschule am Tag der offenen Tür. Da präsentieren verschiedene Kollektive wie The Black Archives oder die Archives de luttes des femmes en Algérie ihre Arbeitsweisen und Anliegen in Form von Videos, riesigen Mindmaps, Wortwolken, Zines und Büchern – überspitzt gesagt sieht man im Fridericianum mehr Sesselkreise als Bilder. Besucherinnen und Besucher, die Schauwerte als "Belohnung" gewohnt sind, werden hier nicht glücklich.

Dennoch passt die Herangehensweise zum Repräsentationsbau, als Ruangrupa dort zeigt, wofür das Kollektiv und damit auch die Documenta 15 steht: Weniger herrschen, mehr teilen. 14 Kollektive und rund 50 Künstlerinnen und Künstler lud Ruangrupa zur Teilnahme ein. Diese wurden in verschiedenen Gruppen unterteilt und entschieden nach den Prinzipien des Lumbung gemeinsam, wofür sie ihre Ressourcen verwenden würden.

So konnten sie zum Beispiel entscheiden, Geld darauf zu verwenden, weiteren Menschen die Teilnahme an der Documenta zu ermöglichen, was dazu führte, dass nun um die 1500 im Kunstfeld Tätige auf der Documenta vertreten sind. Dazu gab Ruangrupa auch die Losung aus, dass nicht unbedingt neue Arbeiten angefertigt werden müssen, sondern dass die Kollektive einfach zeigen sollen, womit sie sich gerade sowieso beschäftigen. Man kann also sagen, dass Ruangrupa dafür sorgen wollten, dass sich Kunstschaffenden nicht einem unausgesprochenen Diktat der Documenta (soll auch heißen "des Westens") als Leistungsschau unterordnen sollten, sondern die Documenta sich ihrer Praxen.

"Make friends, not art"

Auch die 100 Tage, die die Documenta dauert, sind nicht der Zeitraum, um den es Ruangrupa vordringlich geht. Die neuentstandene Netzwerke sollen im besten Fall nachhaltig miteinander in Austausch stehen – "make friends, not art" ist einer der Sprüche, für den man Ruangrupa kennt.

Der Funke springt über – die Stimmung auf dieser Documenta ist bei den Vorbesichtigungstagen entspannt, teilweise fast ausgelassen. Grüppchen nehmen an Workshops und Performances teil. Da trommelt jemand im Gras, dort inspiziert jemand in einem kollektiv gebauten Gemeinschaftsgarten Pflanzen. Gedanken an Kunst als Ware liegen dagegen fern. Kunst ist hier mehr eines von vielen Tools für gelebten Aktivismus.

Anstatt aber darüber zu diskutieren, ob Kunst denn überhaupt aktivistisch sein soll, oder wie es Sabine Schormann tut, jede Diskussion mit dem Argument aus dem Weg zu gehen, dass es um den Prozess und nicht das Ergebnis ginge, sollte man eher die Frage stellen, ob die gezeigte aktivistische Kunst ihre Anliegen denn gut vermittelt.

Wenig hakt sich im Gedächtnis fest

Bei einem ersten Rundgang der Locations in Kassel Mitte muss man leider feststellen, dass eher wenige Installationen wirklich in Erinnerung bleiben – sieht man von der Intervention des Wajuukuu Art Project ab, das mit der Verkleidung der Documenta-Halle in Wellblech und durch das Bauen eines Tunnels als Eingang sich auf das Slum Lunga Lunga in Nairobi bezieht. Ein abschließendes Urteil, wie gelungen die kollektiven Positionen der diesjährigen Documenta sind, wird man erst fällen können, hat man alle 32 Standorte gesehen. Es lässt sich aber jetzt schon feststellen, dass Ruangrupas kollaborativer Ansatz für eine völlig andere Atmosphäre sorgt, als man das von Ausstellungen dieser Größenordnung sonst gewohnt ist. Man kann sich in Kassel anschauen, was passiert, wenn man Wettbewerb durch Zusammenarbeit ersetzt. (Amira Ben Saoud, 16.6.2022)