Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen im letzten Jahrhundert rückt uns als Warnung gerade bedrohlich näher. Hass, Hetze und rigide Ablehnung der demokratischen Grundlagen bestimmten von Beginn an den Bestand der ersten deutschen Republik. Der im November 1918 ausgerufene Staat stieß sowohl in rechts- wie in linksextremen Kreisen auf vehementen Widerstand.

Die Niederlage im Krieg und der ernüchternde Versailler Vertrag hatten die deutschen Weltmachtpläne derart drastisch zur Makulatur werden lassen, dass vor allem die neugegründete Deutschnationale Volkspartei dagegen mit entfesselten Kampagnen Sturm lief. In Kreisen völkischer und revanchistischer Gruppierungen, aber auch in Teilen des Kleinbürger- und Beamtentums galten die "Erfüllungspolitiker" der Weimarer Republik als Verräter am deutschen Volk.

Martin Sabrow, "Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution". 24,70 Euro / 334 S. Wallstein, Göttingen 2022
Cover: Wallstein Verlag

Am meisten verhasst war seit seinem Amtsantritt Ende Jänner 1922 der Reichsaußenminister Walther Rathenau. Der 1867 geborene Sohn des erfolgreichen Gründers der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) hatte zu Kriegs beginn die Rohstoffversorgung des Landes koordiniert und war im Mai 1921 als Minister für den Wiederaufbau in das Kabinett Joseph Wirth eingetreten.

Er hatte sich als Schöngeist und profilierter Publizist mit Büchern wie Zur Kritik der Zeit (1912) und Von kommenden Dingen (1917) in die intellektuelle deutsche Debatte eingebracht und war als Befürworter der Reparationszahlungen bestrebt, die Wiedereingliederung des Deutschen Reichs in die internationale Politik voranzutreiben.

Bilaterale Abkommen

Bei der großen Wirtschafts- und Finanzkonferenz im April 1922 in Genua erwartete ihn die Probe aufs Exempel. Zwar hatte Frankreich gegen den britischen Premier Lloyd George bereits im Vorfeld durchgesetzt, dass über Reparationen gar nicht erst gesprochen werden sollte.

Doch dem deutschen Außenminister Rathenau gelang am Rande der Konferenz ein Überraschungscoup: In einem am 16. April 1922 in der nahen Küstenstadt Rapallo geschlossenen bilateralen Abkommen wurde zwischen Deutschland und dem bolschewistischen Russland die Aufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen sowie der Verzicht auf Reparationszahlungen fixiert.

Damit hatte Deutschland seine Souveränität als Mitspieler auf der internationalen Bühne zurückgewonnen. Die Westmächte indes waren über die Eigenmächtigkeit verstimmt.

Thomas Hüetlin, "Berlin, 24. Juni 1922. Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland". 24,70 Euro / 304 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022
Cover: Kiepenheuer & Witsch

Zu Hause in Deutschland stieß der "Vertrag von Rapallo" auf gemäßigte Zustimmung in linken und liberalen Kreisen, doch die völkischen und deutschnationalen Stimmen überschlugen sich in bösartigen Verunglimpfungen und geifernden antisemitischen Anwürfen. In der rechten Hetzpresse wie auch in unzähligen Flugblättern und Klebezetteln wurde Rathenau zur zentralen Zielfigur hasserfüllter Empörung über den "jüdischen Kapitalisten", der Deutschland nun den "russischen Kommunisten" ausliefere.

Rechtsradikaler Geheimbund

Im Reichstag wütete der Finanzexperte und Scharfmacher der Deutschnationalen Partei Karl Helfferich gegen den "Leidensweg der Politik der Erfüllung" und forderte, man solle "die verbrecherische Regierung Wirth" vor das Standgericht stellen. Die Stimmung nützte einem rechtsradikalen Geheimbund, der sich "Organisation Condor" nannte und seit Kriegsende durch eine Serie rechtsextremer Mordanschläge die Festigkeit des demokratischen Staats zu erschüttern suchte.

Gegründet von dem ehemaligen Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt, scharte die aus zahlreichen versprengten Freikorps-Soldaten rekrutierte Gruppe eine Anzahl gewaltbereiter Überzeugungstäter um sich, die sich für Attentate bereithielten. Nach der Ermordung des ehemaligen Finanzministers und Zentrumspolitikers Matthias Erzberger im August 1921 und dem Mordversuch an dem Sozialdemokraten Philipp Scheidemann am 4. Juni 1922 stand nun der deutsche Außenminister auf ihrer Liste.

"Schlag tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau", skandierten die Mitglieder des Freikorps wie einen Gassenhauer. Doch trotz der unverhohlenen Drohung schlug der Außenminister alle angeratenen Vorsichtsmaßnahmen aus.

Unterwanderte Justiz

Am Vormittag des 24. Juni 1922 warfen zwei junge Weltkriegsoffiziere namens Kern und Fischer in Berlin-Grunewald eine Handgranate in Rathenaus Wagen und töteten den Minister mit Schüssen aus einer Maschinenpistole. Die Täter entkamen und fanden erst nach langer Flucht den Tod. Im folgenden Prozess tat die von rechts unterwanderte Weimarer Justiz erfolgreich alles, um ein Einzeltäter-Urteil zu fällen und die Hintermänner ungeschoren zu lassen.

In einer faszinierenden Studie leuchtet Martin Sabrow, emeritierter Zeithistoriker der Berliner Humboldt-Universität, alle Hintergründe des rechten Terrors gegen die Weimarer Republik aus und weist kompetent auf die Parallelen zum heutigen rechtsextremistischen Terror hin.

Eher reißerisch, gleichsam im atemlosen Reporterstil, stellt der ehemalige Spiegel-Korrespondent Thomas Hüetlin die Ereignisse rund um den Rathenau-Mord vor 100 Jahren dar. Die Lektüre beider Bücher erschreckt: Der Hass, der bereits damals große Teile einer dumpfen öffentlichen Kommunikation beherrschte, kam noch ganz ohne die Verbreitung in sozialen Netzen aus. (Oliver vom Hove, 19.6.2022)