Die Generaldirektorin der Welthandelsorganisation, Ngozi Okonjo-Iweala (li.) neben dem Konferenzvorsitzenden Timur Suleimenov (re.) nach Abschluss der WTO-Ministerkonferenz.

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Am Freitagmorgen, anderthalb Stunden vor Sonnenaufgang, startete die letzte Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation. Die Delegationschefs kamen nach tagelangem Feilschen und Schacher in der Genfer WTO-Zentrale noch einmal zusammen: Ermüdet und erschöpft, segneten die Handelsdiplomaten die Beschlüsse der 12. WTO-Ministerkonferenz ab – und beklatschten sich schließlich selbst. "Seit langem hat die WTO nicht mehr so viele multilaterale Ergebnisse erzielt", jubelte die Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala. "Die Ergebnisse zeigen, dass die WTO in der Tat in der Lage ist, auf die Nöte unserer Zeit zu reagieren."

Auf der ersten WTO-Ministerkonferenz seit 2017 einigten sich die oftmals zerstrittenen Mitglieder auf eine Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Impfstoffe und das Streichen schädlicher Fischereisubventionen. Zudem will sich die WTO angesichts drohender Hungersnöte stärker für die Ernährungssicherheit einsetzen. Der indische Wirtschaftsminister Shri Piyush Goyal, der die Gespräche immer wieder zum Stillstand gebracht hatte, sah schon am Donnerstag einen Grund "zum Feiern".

Kein großer Wurf

Doch gerade der Beschluss zu den Patenten auf Covid-19-Vakzine zeigt, dass die WTO-Mitglieder den großen Wurf nicht wagten. Vielmehr produzierten sie einen Formelkompromiss, der niemandem nutzen wird und der auch keine Feierlaune verbreiten dürfte. Letztlich setzten sich die WTO-Mitglieder nach insgesamt 20 Monaten zäher Patentverhandlungen selbst unter Druck, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Damit wollten sie sich selbst und der Welt beweisen, dass die oft gescholtene WTO doch noch zählt.

Auch die seit mehr als einem Jahr amtierende WTO-Chefin Okonjo-Iweala trieb die Delegationen aus allen Ecken der Welt immer wieder an, "zu liefern". Die energische Nigerianerin wollte tunlichst vermeiden, dass sie nach ihrem ersten WTO-Gipfel mit leeren Händen dasteht.

Konkret sollen laut WTO-Beschluss Unternehmen aus bestimmten Entwicklungsländern jene Patente nutzen dürfen, die für die Herstellung und Lieferung von Corona-Impfstoffen erforderlich sind. Und zwar, "ohne die Zustimmung des Rechteinhabers" einzuholen. Etablierte Pharmafirmen aus Europa und den USA müssen also auf ihre Patente vorübergehend verzichten. Unternehmen aus armen Regionen hingegen können die Patente nutzen, um eine Vakzinmassenproduktion anzukurbeln. Diese Regelung soll bis zu fünf Jahre gelten.

"Unausgegorenes Konzept"

Doch das Konzept erweist sich als "unausgegoren", wie selbst der indische Minister Goyal während der Verhandlungen schimpfte. Er räumte ein: "Impfstoffe haben bereits an Bedeutung verloren, es gibt keine Nachfrage mehr nach Impfstoffen."

Das mag zwar übertrieben sein, tatsächlich produzieren Pharmafirmen wie Biontech, Pfizer und Moderna nach Angaben des Branchenverbandes IFPMA schon weit mehr als nötig. "Sie könnten in diesem Jahr mindestens 20 Milliarden Impfdosen herstellen, während der Bedarf wahrscheinlich bei etwa sechs Milliarden liegt", erklärte IFPMA-Generaldirektor Thomas Cueni dem STANDARD. Cueni schlägt vor, sich auf die "wirklichen Herausforderungen" beim Zugang zu Covid-19-Impfstoffen zu konzentrieren. Es gehe um die "Beseitigung von Handelshemmnissen, die Bewältigung von Verteilungsproblemen und die Stärkung von Gesundheitssystemen" in armen Ländern. Insgesamt gibt sich Cueni "tief enttäuscht" über den WTO-Beschluss, der die Innovationskräfte in den Firmen und den Forscherdrang in der Wissenschaft gefährde.

Kritik von Hilfsorganisationen

Doch auch Hilfsorganisationen äußern sich frustriert über den "faulen Kompromiss" von Genf – selbstredend aus anderen Gründen als die Vertreter der Pharmabranche. "Für den Bereich globale Gesundheit in Zeiten einer Pandemie ist das Ergebnis besonders ernüchternd", urteilt Nelly Grotefendt, Referentin für Handelspolitik beim Forum Umwelt und Entwicklung. "Ich hatte sehr gehofft, dass die Länder sich zu einem Präzedenzfall durchringen können, der weitreichend ist." Die Helfer kritisieren, dass der WTO-Beschluss Medikamente gegen Covid-19 und Diagnostika zur Erkennung der Krankheit nicht abdeckt.

Tatsächlich kamen die WTO-Mitglieder überein, innerhalb der nächsten sechs Monate auch über die Aussetzung der Patentrechte auf die lukrativen Arzneien und Diagnostika zu entscheiden. Doch die Antwort auf diese Frage fiel schon auf der jetzt beendeten 12. Ministerkonferenz. Eine Ausnahmeregelung für Heilmittel und Testverfahren wird es nicht geben – der Widerstand aus den EU-Staaten, den USA, Großbritannien, der Schweiz und anderen Staaten mit starker Pharmabranche ist dafür zu groß. (Jan Dirk Herbermann aus Genf, 17.6.2022)