Choreografischer Musterkoffer für das Erschöpfungssyndrom: Im Wiener Jugendstiltheater büßt eine Gruppe Männer für das gemeinsam abgehaltene Frühlingsopfer – Rimbaud ist auch dabei.

Nurith Wagner-Strauss

Es ist kein Zuckerschlecken. Sondern je nach Perspektive die Hölle, eine Katharsis oder mindestens ein Marathon. Mit ihrem Stück Só eu tenho a chave desta parada selvagem beschert die portugiesische Regisseurin und Choreografin Mónica Calle (56) den Wiener Festwochen eine so harte wie geglückte Uraufführung im Jugendstiltheater.

Der Name dieser Prüfung für die 15 Darsteller und ihr Publikum lautet übersetzt: "Ich allein halte den Schlüssel zu dieser wilden Parade". Das ist der Schlusssatz eines Gedichts von Arthur Rimbaud, in dem es um die Herren – "Handfeste Halunken" – der Schöpfung geht: "Augen, stumpf wie die Sommernacht, / rot und schwarz, dreifarbig, aus Stahl, / von Goldsternen durchsetzt; entstellte Züge, / bleiern, wächsern, entzündet."

Mónica Calle lässt ihre Männer nackt antreten und für sie Igor Strawinskys Le sacre du printemps aufspielen. Sie stellen sich in einer Reihe auf, beginnen mit den Füßen zu stampfen und sich mit flachen Händen auf die Brustkästen zu schlagen. Ihre Blicke herausfordernd ins Publikum gerichtet, beginnen sie zu hüpfen. Rimbaud: "Meisterhafte Taschenspieler / wie sie verwandeln Ort und Mensch, sie / setzen auf die Anziehungskraft der Gaukelei."

Diese Männer stampfen, brustklatschen und hüpfen, wie um etwas zu beweisen. Die Musik hält sie auf Schiene. Le sacre du printemps ist auch eines der ikonischen Ballette der frühen Moderne. Uraufgeführt von den berühmten Ballets Russes 1913 in Paris knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, sorgte das Stück für bis heute legendäre Dissonanzen im Publikum.

Typen im Adamskostüm

Für Calles Arbeit ist die im Tanz vielstrapazierte Sacre-Geschichte wichtig: Im vorchristlichen Russland kommen verschiedene Stämme zusammen, um dem Gott des Frühlings gemeinsam ein Opfer zu bringen. Eine Jungfrau hat zu tanzen, bis sie stirbt. Bei Só eu tenho a chave … fehlt der weibliche Part. Die Männer in ihren Adamskostümen – ganz unterschiedliche Typen – müssen selbst für das Opfer sorgen.

Sie nehmen es sportlich: Man ist ein Team und besitzt eine gemeinsame Aufgabe. Mit der Zeit kommt es vor, dass Einzelne ausbrechen oder spontan gefeuert werden – doch schnell kommen sie wieder zurück oder werden geholt. Spätestens während der ersten Wiederholung der gut halbstündigen Sacre-Komposition wird die Verausgabung sehr deutlich. Die Gruppe folgt einem repetitiven Muster und schwitzt kräftig. Stumpfer werden ihre Blicke erst während der zweiten Wiederholung. Ein Performer hat sich den Fuß verknackst, beißt die Zähne zusammen, macht weiter. In der Erschöpfung – auch beim Auditorium – beginnt das Kathartische. Die Sinne schärfen sich, plötzlich wird klar: Das ist die Verdammnis, das Hamsterrad, kein Entrinnen möglich. Sieht so die Rache für das grausame Frühlingsopfer, für die destruktive Männerkultur aus?

Die Mienen der "handfesten Halunken" verzerren sich während der dritten Wiederholung, die Körper der "Taschenspieler" werden "bleiern" schwer. Nach rund zwei Stunden bricht die Hölle weg, weil alle Verdammnis das Endgültige braucht. Mónica Calle hat den Schlüssel: Sie verweigert das Prinzip Rache und lässt "ihre" Männer sich selbst auf ein menschliches Maß zurechtstutzen. (Helmut Ploebst, 18.6.2022)