"Diablo Immortal" ist nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die sich schon lange abzeichnete.

Foto: Blizzard

Nun ist es schon mehr als zwei Wochen her, dass das Free-to-Play-Handyspiel Diablo Immortal offiziell erschienen ist – und die Gaming-Community ist noch immer stinksauer auf den dahinterstehenden Publisher Activision-Blizzard. Dabei geht es gar nicht mal mehr allein um das auch vom STANDARD scharf verurteilte Geschäftsmodell, welches dem RPG legendär schlechte Bewertungen bescherte... nein, es geht um eine Meta-Thematik: Um die Erkenntnis, dass Core-Gamer nicht mehr die wichtigste Zielgruppe der Publisher sind.

Denn Diablo Immortal ist bloß die Spitze eines Eisbergs, der schon lange durchs Meer treibt und unsere Titanic zu rammen drohte – also unser liebstes Hobby, welches zugleich auch Teil unserer Identität ist, das Spielerdasein. Hier wurden diverse Mechaniken auf die Spitze getrieben und zu einem teuflischen Cocktail vermischt, die es bereits vorher an diversen Stellen gab: Über Nudging sollen die Menschen zum täglichen Einloggen motiviert werden, um sie dann mehr oder weniger galant in den Shop zu führen, wo sie Geld ausgeben sollen – das alles kombiniert mit einem recht seelenlosen Gameplay, das der Genrebezeichnung "RPG" eigentlich nicht gerecht wird.

Nota bene: Ich habe bei diesen Ausführungen das Wort "Wir" vermieden. Denn bei diesem Geschäftsmodell sind nicht jene Menschen adressiert, die ganze Abende damit verbringen, in Crusader Kings Intrigen zu schmieden und ihr Reich auszubauen – sondern jene, die in der Ubahn eine schnelle Runde Candy Crush zocken.

Wachsender Markt

Aber ehrlich: Was habt Ihr euch erwartet? Publisher sind keine Wohlfahrtsorganisationen, die aus reiner Nächstenliebe Kunstwerke erschaffen, damit Ihr euch daran erfreuen könnt. Es sind gewinnorientierte Konzerne, die feiern können, dass Ihr Geschäftsfeld in den vergangenen Jahren zunehmend in den Massenmarkt eingedrungen ist.

Erst diese Woche hat der Verband der deutschen Games-Branche wieder Jubelzahlen verkündet: Sechs von zehn Deutschen spielen Computer- und Videopspiele, Frauen ebenso wie Männer, und das Durchschnittsalter ist auf fast 38 Jahre gestiegen. Rund 9,8 Milliarden Euro wurden in Deutschland im Vorjahr umgesetzt – 17 Prozent mehr als im Vorjahr.

Dass nicht alle diese Menschen komplexe Vollpreistitel wie Elden Ring auf einem Hochleistungs-PC spielen, sollte klar sein. Ganz im Gegenteil, es gibt in der Studie sogar konkrete Zahlen zum Thema Free-to-Play: Mit einem Plus von 19 Prozent auf rund 5,4 Milliarden Euro haben In-Game- und In-App-Käufe den größten Beitrag zum Wachstum geleistet.

Dispatch, anyone?

Es ist für die Konzerne ökonomisch sinnvoll, auf das stärkste Pferd zu setzen – und das sind eben nicht mehr die Liebhaber komplexer Titel, sondern die Masse, die sich gerne ein Spiel gratis auf dem Handy herunterlädt und dann entweder massenhaft stumpfsinnige Werbung konsumiert oder irgendwann doch Geld in den virtuellen Bezahlschlitz wirft.

Und das ist im Grunde okay.

Denn nur weil die großen Publisher lieber auf die Masse gehen, heißt das noch lange nicht, dass Liebhaber von kreativen, ungewöhnlichen Spielen leer ausgehen. Alleine auf der PC-Plattform Steam finden sich über 50.000 unterschiedliche Spiele, pro Jahr kommen 6.000 bis 8.000 neue Games hinzu.

Und da ist für jeden etwas dabei, von Puzzlespielen über JRPGs bis hin zu Simulatoren, in denen man so gut wie alles sein kann – von einem Landwirt auf dem Mond bis zu Jesus Christus. Viele dieser Spiele wurden nur für eine kleine Zielgruppe entwickelt, von Liebhabern für Liebhaber. Aber sie sind da, und niemand hindert uns daran, sie zu kaufen. So wie es sich auch mit Indie-Musik verhält: Ich habe offen gesagt keine Ahnung, was gerade in den Charts läuft, aber nichts hindert mich daran, Bands mit Namen wie "Archive" oder "Dispatch" zu hören – die nunmal meinen eigenen Geschmack besser treffen als jede Katy Perry dieser Welt.

Micropayments für Justin Bieber?

Alles in Butter also? Nicht ganz. Denn wenn wir den Vergleich mit der Musikwelt weiter drehen, dann müssen wir uns die Frage stellen: Wäre es für uns vertretbar, dass ein Lied von Justin Bieber nur in der gewünschten Geschwindigkeit weiter gespielt wird, wenn wir dafür jedes Mal 99 Cent zahlen? Und fänden wir es okay, dass wir dann trotzdem keine Garantie für eine korrekte Wiedergabe hätten, sondern die Qualität des Songs von einer Glücksspielmechanik ausgewürfelt wird?

Natürlich nicht. Das wäre doch absurd. Dementsprechend sind die Gesetzgeber gefordert, manipulativen Glücksspielmechaniken auf jeden Fall einen Riegel vorzuschieben. Das hat dann nämlich mit Vielfalt nichts mehr zu tun – sondern ist nichts anderes als eine gewissenlose Ausnutzung jener Menschen, die zu suchtartigem Verhalten neigen. Und diese Menschen müssen vor sich selbst geschützt werden. (Stefan Mey, 19.6.2022)