Ein Erinnerungsfoto mit Peter dem Großen oder einer sowjetaffinen Großmutter? Wachsfiguren in St. Petersburg bieten zahlreiche Optionen, nostalgisch zu sein.

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Putin führe nicht nur gegen die Ukraine Krieg, sondern gegen ganz Europa, sagt Irina Scherbakowa.

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Mit seinem Geschichtsrevisionismus gelinge es Präsident Wladimir Putin, Leute einzufangen, die sich nach verschiedenen Epochen der russischen Geschichte sehnen, argumentiert die Historikerin Irina Scherbakowa, eine Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial. Ziel des Kreml sei es, den Patriotismus im Land abermals zu stärken, um den Krieg zu rechtfertigen.

STANDARD: Wladimir Putin umrahmt seinen Angriff auf die Ukraine häufig mit historischen Bezügen. Was ist dabei der Hintergrund?

Scherbakowa: Dieses Spiel mit der Geschichte hat schon vor längerer Zeit begonnen. Es gab schon früh nach Putins Machtantritt viele Anzeichen dafür, dass die sowjetische Vergangenheit rehabilitiert wird, zum Beispiel die Rückkehr der sowjetischen Hymne mit nur kleinen Veränderungen. Mithilfe der Geschichte wurde eine patriotische Ideologie aufgebaut, mit dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg (dem Zweiten Weltkrieg, Anm.) als Zentrum – nicht nur der Geschichtspolitik, sondern auch der Geopolitik. Das wurde bereits deutlich, als Putin den Zerfall der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete.

STANDARD: Dazu kommen Nazi-Vorwürfe gegen die Führung in Kiew.

Scherbakowa: Ja, das ist ein massiver Missbrauch der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Die Umdeutung des Nazi-Begriffs findet ganz massiv seit 2014 statt, seit der Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine. Es ist ein Spiel mit banalen und noch dazu falschen Geschichtsvorstellungen. Immer wieder wird etwas herausgefischt, was die aggressive russische Politik untermauern soll – zuletzt etwa die Erinnerung an Peter den Großen, der angeblich zurückgeholt hat, was einst Russland gehörte.

STANDARD: Wie sehen Sie solche Vergleiche?

Scherbakowa: Sie sind gefährlich und fast immer ein Mythos. Etwa bei der Frage, wem eigentlich die Krim gehört, müsste man mindestens bis in die griechische Antike zurückgehen. Diese Mythen dienen nur der Rechtfertigung der Aggression. In Wirklichkeit geht es um den Kampf gegen alles Demokratische und Liberale. Das muss dem Westen endlich klar werden. Laut Umfragen hat in Russland sogar die Zahl derer zugenommen, die Stalin gutheißen. Und Stalin – das bedeutet Massenterror, Repression und die Missachtung von Menschenrechten.

STANDARD: Gleichzeitig aber ist die Kreml-Führung ja nicht von kommunistischen Prinzipien geleitet. Wie passt das alles zusammen?

Scherbakowa: Die ideologischen Merkmale dieser Diktatur sind eklektisch und hybrid. Auf den ersten Blick gibt es Widersprüche in sich, aber genau diese bilden ein Netz, mit dem man viele Menschen einfangen kann: die Kommunisten, die von der Wiedererrichtung der Sowjetunion träumen; die Monarchisten, wenn es um die Figuren aus der Zarenzeit geht; die Rechtsradikalen, wenn es um den Nationalismus geht. Das ist geradezu der Sinn dieser gebrochenen Weltanschauung.

STANDARD: Ihre Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich auch mit Verbrechen des Stalinismus befasste, wurde im Dezember gerichtlich aufgelöst. Ein Vorbote des Krieges?

Scherbakowa: Schon 2016 wurde die internationale Memorial-Gesellschaft zum ausländischen Agenten erklärt. Danach wurde unsere Arbeit immer schwieriger, es gab Verleumdungskampagnen und immer höhere Strafen aus völlig absurden Gründen. Wir hatten wahrscheinlich die besten Juristen im Land, die Anklage im Verbotsverfahren wurde von ihnen niedergemetzelt. Der Staatsanwalt hatte darauf überhaupt keine Antworten. In seinem Plädoyer war dann aber gar keine Rede mehr von irgendwelchen Verstößen. Er hat einfach gesagt, dass wir die Sowjetunion als Terrorstaat darstellen wollen. Damit wurde deutlich, dass das Verbot eine rein politische Entscheidung ist. Im Nachhinein sehe ich das als Säuberung im Vorfeld des Krieges.

STANDARD: Der Westen ringt seit Kriegsausbruch um eine Strategie. Wie beurteilen Sie diese Debatten?

Scherbakowa: Ich und viele andere aus dem Umfeld von Memorial haben früh davor gewarnt, wohin die Reise geht. Wir wurden aber nicht von vielen gehört. In Österreich, aber auch in Deutschland hat man uns immer wieder erklärt, dass Russland eben eine feste Hand brauche, dass man auf Putins gekränkte Gefühle achten und Moskau "auf Augenhöhe" begegnen müsse. Ich habe immer Blindheit, aber auch Business-Interessen hinter dieser "Realpolitik" gesehen. Jetzt kann man erneut hören, dass man Putin nicht in die Ecke drängen darf, dass er sein Gesicht wahren muss. Man will nach wie vor nicht wahrhaben, dass das nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine ist, sondern gegen Europa, gegen demokratische Werte. Wenn man die Ukraine ausbluten lässt, wird auch der Preis für den Westen sehr hoch sein.

STANDARD: Gleichzeitig aber will man im Westen eine Eskalation des Konflikts vermeiden. Können Sie das nicht nachvollziehen?

Scherbakowa: Putin will genau diese Angst erzeugen. Man wird die Eskalation nicht stoppen, indem man der Ukraine nicht wirklich hilft. Das wäre genau der falsche Weg. Für manche Politiker, die von ihren Wählern abhängig sind, scheint dieser Weg bequemer und ungefährlicher zu sein. Putin aber ist von gar nichts abhängig. Auch wenn das eine schlechte Botschaft ist: Man muss dieser Wahrheit ins Auge sehen. Einzig die hunderttausenden Menschen, die schon zu Beginn des Krieges in ganz Europa auf die Straße gingen, gaben mir das Gefühl, dass wir als russische Kriegsgegner nicht allein sind. (Gerald Schubert, 20.6.2022)