Der gebürtige Iraner Alireza Firouzja (19) zählt in Madrid zu den Favoriten.

Foto: EPA/FERNANDO VILLAR

Ein bisschen hat er allen den Spaß verdorben. Als Schachweltmeister Magnus Carlsen (31) kürzlich bestätigte, dass er seinen WM-Titel wahrscheinlich nicht mehr verteidigen wird, ging ein Raunen durch die Schachwelt. Der Norweger, Weltmeister seit 2013 und seit einem Jahrzehnt das Aushängeschild des Spiels, hat schlicht keine Lust mehr auf die zehrenden Zweikämpfe um den WM-Titel. Und das, obwohl (oder weil) er dabei bisher fünfmal ungeschlagen blieb: Zuletzt hatte Carlsen im Dezember den indisponiert wirkenden Russen Jan Nepomnjaschtschi (31) im Match von Dubai 7,5 zu 3,5 deklassiert.

Macht Carlsen seine Drohung wahr, dann geht es für die acht Teilnehmer des Turniers von Madrid, das am Freitag begann und bis 7. Juli dauert, allerdings gewiss nicht um weniger – im Gegenteil: Für den Fall des Rücktritts des regierenden Weltmeisters sieht das Reglement im Frühjahr 2023 ein WM-Match zwischen dem Erst- und Zweitplatzierten des Kandidatenturniers vor.

Dass nach Carlsens Ankündigung niemand weiß, ob in Madrid ein oder zwei WM-Tickets ausgespielt werden, ist nicht das einzige Problem des Turniers. Auch die Zusammensetzung des Teilnehmerfeldes sorgte bei Kritikern für Kopfschütteln. Zwar hatte sich der Weltschachbund Fide in den letzten Jahren auf nachvollziehbare sportliche Kriterien für die Qualifikation geeinigt. Pandemie und Ukraine-Krieg beschädigten die Validität der Auswahl nun aber gravierend.

Kaum nachvollziehbar

Viele fragen sich etwa, warum Teimur Radschabow (35) aus Aserbaidschan dieses Jahr an den Start geht. 2019 hatte der Aseri überraschend den World Cup gewonnen und sich damit für das Kandidatenturnier 2020 qualifiziert, an dem er aus Sorge um seine Gesundheit als einziger Qualifikant nicht teilnahm. Dass die Fide die aktuelle Nummer 13 der Rangliste dafür nun zwei Jahre später mit einem Freiplatz für Madrid entschädigt, ist aus sportlicher Sicht kaum nachvollziehbar.

Schwierigkeiten könnte sich der Weltschachbund auch mit der Ausladung von nur einem der beiden russischen Qualifikanten einhandeln: Sergej Karjakin (32), der Magnus Carlsen beim WM-Match 2016 in New York nur haarscharf unterlegen war, wurde von der Ethikkommission der Fide wegen seiner fanatisch prorussischen und kontrafaktischen Äußerungen zum Ukraine-Krieg gesperrt. Der Chinese Ding Liren (29), derzeit Nummer zwei der Weltrangliste, rückte nach.

Der dritte Tag im (Re-)live.
chess24

Vizeweltmeister Jan Nepomnjaschtschi, der sich wie über 40 weitere russische Großmeister in einem offenen Brief gegen Putins Krieg aussprach, darf dagegen in Madrid spielen. Moralisch mag die Differenzierung verständlich sein, aber: Sollte "Nepo" wie schon 2020 gewinnen, dann brächte das wohl ihn selbst ebenso wie das Weltschach in Teufels Küche. Der Kreml würde kaum zögern, die Heimholung des WM-Titels zur patriotischen Frage zu erklären und den nach wie vor in Russland lebenden Nepomnjaschtschi mit allen Mitteln politisch auf Linie zu zwingen.

Junge Garde

Nicht nur deshalb wäre ein neuer Sieger erfreulich. Mit dem Polen Jan-Krzysztof Duda (24), dem Ungarn Richard Rapport (26) und dem seit letztem Jahr in Frankreich lebenden gebürtigen Iraner Alireza Firouzja (19) haben sich gleich drei Vertreter der jungen Garde für Madrid qualifiziert, die für ihr ideenreiches und kompromissloses Spiel geschätzt werden. Firouzja, der zurzeit auf Platz drei der Weltrangliste notiert, wurde von Magnus Carlsen gar zum Kronprinzen ernannt. Im Falle eines Sieges des Shootingstars könnte er doch noch einmal die Motivation aufbringen, in den WM-Ring zu steigen, ließ sich vom Weltmeister vernehmen.

Und auch ein Überraschungssieg Hikaru Nakamuras hätte seinen Charme. Der 34-jährige US-Amerikaner verlegte sich während der Pandemie hauptberuflich aufs Schach-Streaming. Inzwischen erreicht er mit seinen Online-Sendungen ein Millionenpublikum und setzt pro Jahr siebenstellige Beträge um. Bei der Grand-Prix-Serie 2022 spielte Nakamura so befreit auf, dass dem Neo-Amateur sensationell die Qualifikation für das Kandidatenturnier glückte. Schwer vorstellbar, dass Magnus Carlsen, den mit Nakamura eine viele Jahre währende Rivalität verbindet, diesem den WM-Titel im Fall des Falles wirklich kampflos überlässt.

Der beste Start ins Turnier gelang neben Jan Nepomnjaschtschi jedoch Fabiano Caruana (29), beide notierten nach drei Runden bei zwei Punkten. Caruana, der zweite US-Amerikaner im Feld, hatte das Kandidatenturnier bereits 2018 gewonnen und war im WM-Match gegen Magnus Carlsen erst im Tiebreak gescheitert. (Anatol Vitouch, 20.6.2022)