Den obligatorischen schwarzen Hut trägt Bestsellerautorin Amélie Nothomb seit Corona nicht mehr so häufig. Exzentrisch in Schwarz inszeniert sie sich aber nach wie vor gerne.

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Amélie Nothomb ist eine der meistgelesenen Autorinnen des französischen Raums – und eine der exzentrischsten. Sie wuchs an mehreren Orten Asiens auf, angefangen in Japan, wo sie mit ihrem ersten Roman Mit Staunen und Zittern einen Bestseller schuf. Nach eigener Darstellung hat sie 30 Romane publiziert, die meisten liegen auf Deutsch vor. Am Mittwoch erscheint der neue, Ambivalenz (€ 20,60/128 Seiten), bei Diogenes.

STANDARD: Man kennt Sie eigentlich mit schwarzem Hut auf dem Kopf. Wo ist der heute?

Nothomb: Seien Sie nicht enttäuscht. Seit Covid trage ich meine Kopfbedeckung weniger häufig. Mit ihr und meinen – natürlich schwarzen – Gesichtsmasken sah ich aus wie Zorro. Zur Arbeit im Pariser Verlagsgebäude komme ich zudem mit dem Fahrrad. Dabei einen Hut zu tragen ist nicht leicht.

STANDARD: Sie haben im Verlag, der Sie veröffentlicht, ein winziges Büro, um Leserbriefe zu beantworten. Arbeiten Sie immer noch ohne Computer und Handy, nur mit Kugelschreiber?

Nothomb: Als ich vor 30 Jahren mit dem Schreiben begann, war es normal, weder Computer noch Handy zu haben. Das ist bis heute meine Normalität. Ohne Telefon zu sein verschafft mir Freiheit. Ich bedaure Kollegen, die rund um die Uhr erreichbar sind. Ich mag die Idee, dass niemand weiß, wo ich bin, wenn ich den Verlag gegen Mittag verlasse.

STANDARD: Auch Computer haben Sie keinen?

Nothomb: All meine Kollegen haben am PC schon mindestens ein Manuskript verloren.

STANDARD: Zu Ihrer "Normalität" gehört auch, um vier Uhr morgens mit der Arbeit zu starten ...

Nothomb: Spätestens! Mit den Jahren verschlechtert sich mein Schlaf, ich wache auch ohne Wecker immer früher auf. Ich schreibe vier Stunden, dann ziehe ich mich an und fahre zum Verlag, wo ich fünf Stunden Leserzuschriften beantworte. Ich sitze an meinem 105. Roman, wobei nur 30 publiziert sind.

STANDARD: Warum nur ein Drittel?

Nothomb: Mit geht es beim Schreiben nicht in erster Linie um die Publikation, sondern darum, etwas aufzuklären, das sich mir zuerst entzieht. Manchmal denke ich dann beim Durchlesen: Schau an, das würde ich gerne mit jemandem teilen. Dann wird es publiziert.

STANDARD: Und wenn ein Roman beendet ist? Beginnen Sie gleich einen neuen?

Nothomb: Dazwischen liegt keine Sekunde. Das erlaubt es mir, im Schöpfungsprozess zu bleiben. Und es ist ein exzellentes Mittel, die Inspiration zu wahren und Ideen zu haben.

STANDARD: Trotzdem sind die Bücher alle vollkommen verschieden ...

Nothomb: Mich ziehen generell eher Unterschiede an als Ähnlichkeiten.

STANDARD: Es ist verblüffend, wie sehr sich auch der Tonfall Ihrer Bücher ändert. Einmal leichtfertig und komisch, dann bedrückend ...

Nothomb: Beide Seiten sind für mich wahr. Oft muss ich beim Schreiben lachen und frage ich mich: Warum schreibst du so scheußliche Dinge? Aber auch schreckliche Geschichten werden, mit Distanz erzählt, drollig.

STANDARD: Im neuen Roman "Ambivalenz" teilt die Frau zum Beispiel ihrem Lover gleich nach dem Sex mit, sie verlasse ihn für einen anderen. Und eine Täterin zieht einem Kranken, der an Apparate angeschlossen ist, den Stecker.

Nothomb: Diese Szene habe ich mir lange ausgemalt. Stellen Sie sich vor, Sie besuchen jemanden im Spital, den Sie verabscheuen, und finden sich mit ihm allein im Zimmer – was liegt näher, als ihn abzuschalten?

STANDARD: Haben Sie keine Lust auf Krimis?

Nothomb: Was ich schreibe, kommt einem Krimi oft nahe, zugleich bleibt es nahe bei einem psychologischen Roman. Ich mag diese Ambivalenz, das ist eine Bereicherung. Das unterscheidet mich auch von jüngeren Autorinnen. In den 90ern war es Mode, ambivalent zu sein. Man war "queer", entsprach nicht der Norm. Heute lautet die Devise: Sei ein Mann. Oder: Sei eine Frau. Man muss in eine Kategorie gehören. Dazwischen gibt es nichts mehr. Das erschreckt mich ein wenig.

STANDARD: In "Ambivalenz" gibt es ein Vater-Tochter-Verhältnis voll Hass und Verachtung. Ist das autobiografisch inspiriert?

Nothomb: Nein, ich hatte wunderbare Eltern. Sie waren nicht perfekt, aber sie liebten uns Kinder. Die beschriebenen Konflikte sehe ich aber häufig in meiner Umgebung, und ich habe die Mechanik, die zu diesem Hass führt, in vielen meiner Bücher seziert. Manchmal ist die Mutter das Monster, hier ist es der Vater.

STANDARD: Im nächsten Buch, das bereits auf Französisch vorliegt, versetzen Sie sich in die Person Ihres Vaters, eines Aristokraten und Botschafters.

Nothomb: Dazu veranlasst hat mich sein Tod vor zwei Jahren. Wegen Covid konnte ich nicht zur Beerdigung nach Belgien fahren, sodass auch die Trauerarbeit unmöglich war. Dafür ließ ich ihn in diesem Buch auferstehen, um mich von ihm verabschieden zu können.

STANDARD: Welche Rolle spielt die eigene Biografie für eine Autorin?

Nothomb: Das Leben ist ein Labor. Meine Person steht mir am ehesten zur Verfügung, um auseinandergenommen zu werden. (Stefan Brändle, 21.6.2022)