Die BA.5-Variante zwingt uns dazu, die rosarote Omikron-Brille abzusetzen. Sie wird die Infektionszahlen wohl auf für den Sommer ungeahnte Höhen steigen lassen. Eine weitere Impfung hilft nur bedingt.

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Die Ferien sind zum Greifen nahe, die Urlaubsplanung ist in der Zielgeraden oder bereits abgeschlossen. Und jetzt droht uns die sich gerade aufbauende BA.5-Welle einen Strich durch die Rechnung zu machen. Bereits für diesen Mittwoch befürchtet der Molekularbiologe Ulrich Elling von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wieder deutlich über 10.000 Neuinfektionen. Gut geschützt vor einer Infektion sind de facto nur jene Menschen, die von der BA.2-Variante genesen sind. Was heißt das für die kommenden Wochen?

Die BA.5-Variante ist in Österreich bereits dominant. Die aktuelle Auswertung, die entnommene Proben bis zum Stichtag 7. 6. enthält, zeigt bereits rund 50 Prozent BA.5-Anteil. Auch BA.4- und die "New-York-Variante" BA.2.12.1 sind vertreten, doch nur zu jeweils etwa fünf Prozent, BA.5 setzt sich ganz klar durch.

Diese enthält – ebenso wie BA.4 und BA.2.12.1 – bereits so viele Veränderungen am Spikeprotein gegenüber BA.1, das Anfang des Jahres dominant war, dass eine Infektion mit dieser Variante keinen Schutz vor Ansteckung mehr bietet, wie Elling erklärt: "Wir haben mittlerweile eigentlich drei Serotypen des Virus, einen von der Ursprungsvariante bis Delta, einen bei Omikron BA.1 und einen weiteren bei den jetzigen Varianten. Das bedeutet, dass jede Welle irgendwie anders ist und unterschiedliche Herausforderungen bringt."

Jede Welle verläuft anders

Bei der sich jetzt aufbauenden Welle erwartet Elling besonders viele Infektionen von bereits Geboosterten, noch mehr als bei der BA.2-Welle: "Der Impfschutz vor Ansteckung durch die vergangenen Booster-Kampagne ist jetzt definitiv weg, vor allem bei älteren Menschen, die relativ bald aufgefrischt wurden. Da werden sich sicher im Verhältnis viele infizieren. Und so manchen wird eine Covid-Infektion leider wohl auch den Urlaub vermiesen." Elling empfiehlt deshalb in den zwei Wochen vor geplanten Reisen besondere Vorsicht und nach Möglichkeit auch Social Distancing. Und er stellt klar: "Eine weitere Impfung schützt nicht sicher vor Ansteckung. Aber sie schützt vulnerable Personen mit schlechter T-Zellen-Antwort vor schwerem Verlauf."

Was den Verlauf mit einer BA.5-Infektion anbelangt, ist er dafür nicht allzu pessimistisch: "Es gibt Hinweise, dass BA.5 wieder etwas schwerere Verläufe macht, die WHO geht von etwa vier Prozent mehr aus. Auch erste Zahlen aus Frankreich deuten darauf hin. Allerdings sind die Zahlen noch nicht nach Altersgruppen bereinigt, und wir sehen dort besonders viele Infektionen von älteren Menschen, die ja ohnehin öfter schwere Verläufe haben. Im Großen und Ganzen bleibt es aber bei dem von Omikron Bekannten." Der Booster jetzt lohne sich für Ältere angesichts dieser Sachlage aber auf jeden Fall.

Steigen die Infektionszahlen jetzt stark an, habe das aber nicht nur Nachteile, meint Elling: "Es wurden unterschiedliche Szenarien erstellt, die im Herbst auf uns zukommen können. Ohne Sommerwelle und ohne Schutzmaßnahmen geht man davon aus, dass im Herbst wieder eine riesige Welle kommt, mit noch höheren Infektionszahlen als im Frühling. Kommt jetzt die Sommerwelle mit der BA.5-Variante, werden wir zwar im Verhältnis auch viele Infizierte haben, aber die Kurve wird flacher verlaufen. Der saisonale Effekt bringt die Kurve zwar nicht nach unten, aber er macht sie zumindest weniger steil."

Omikron als Gamechanger?

Dazu komme, dass im Herbst mit hohen Infektionszahlen bei Influenza und anderen respiratorischen Viren zu rechnen ist: "Haben wir eine Sommerwelle, schützt uns die zwar nicht davor, aber die Infektionen überlagern sich nicht so. Und sie würde die Spitze der Winterwelle etwas kappen und nach hinten verschieben, aber nur, wenn es eine Winterwelle mit einer BA.2-ähnlichen Variante wird."

Tatsächlich sieht Elling in der Omikron-Variante das Potenzial, dass die Pandemie langfristig weniger gefährlich wird: "Wenn sich Omikron in diesem Tempo ständig weiter verändert, haben frühere Varianten bald wirklich keine Chance mehr, sich durchzusetzen. Es wäre für neue Mutationen eine echte Herausforderung, mit Omikron zu konkurrieren. Mit etwas Glück bleibt es langfristig bei dieser Variante, die für uns den eindeutigen Vorteil hat, dass sie in der Pathogenität deutlich abgeschwächt ist."

Vierter Stich vor dem Urlaub?

Was bedeuten all diese Informationen nun für die die Urlaubsplanung? Soll man sich den vierten Stich davor noch holen? Herwig Kollaritsch, Infektiologe und Mitglied des Nationalen Impfgremiums (NIG) betont, dass es auf die Art des Urlaubs ankommt: "Die erste Frage ist, welche Urlaubsdestination habe ich ausgesucht? In Schweden etwa liegt die Sieben-Tage-Inzidenz derzeit unter 20, in Portugal liegt sie bei knapp 1.100. Die epidemiologische Situation im geplanten Urlaubsland ist ein wesentliches Kriterium."

Die zweite Frage ist, wie der Urlaub aussehen wird: "Habe ich ein Appartement oder Haus gemietet, wo ich selbst kochen kann und nur ab und zu essen gehe? Oder bin ich am Ballermann und gehe in die Disco? Das macht einen großen Unterschied." Schließlich gilt es noch, die persönliche Situation zu berücksichtigen, betont Kollaritsch: "Bin ich Risikopatient? Wie weit liegt meine dritte Impfung zurück? Je nachdem sollte ich mir vor dem Wegfahren noch überlegen, ob ich mich impfen lasse." Und es gilt auch zu berücksichtigen, welche Bestimmungen im geplanten Urlaubsland gelten.

Eine allgemeine Empfehlung für eine vierte Impfung gibt Kollaritsch nicht. "Das ist wirklich eine individuelle Entscheidung. Aber wenn jemand sich große Sorgen macht oder Angst hat, dann sage ich schon: Holen Sie sich die Impfung. Das ist vom NIG auch so abgesegnet, und manche fühlen sich damit einfach wohler."

Derzeit ist der zweite Booster vom NIG für über 80-Jährige und altersunabhängig für alle Immunsupprimierten empfohlen, Daten aus Israel und Portugal belegen da auch eindeutig den Nutzen. Möglicherweise wird die Auffrischungsempfehlung des NIG auf über 65-Jährige ausgeweitet: "Diese Sitzung hat noch nicht stattgefunden, aber es wäre denkbar. Auch international gibt es diese Überlegungen."

Nicht warten auf angepassten Impfstoff

Kollaritsch betont aber auch, dass all das nur so lange gilt, solange die Zahlen nicht wieder dramatisch ansteigen: "Das würde natürlich alles wieder relativieren. Nur kann ich das heute nicht beantworten. Der Vorteil ist aber, dass im Fall des Falles ein Booster innerhalb weniger Tage wirkt. Als normal gesunde Person kann ich mich sozusagen erste Reihe fußfrei hinsetzen und beobachten, wie sich die epidemiologische Situation entwickelt."

Stellt sich nur noch die Frage, ob man auf einen angepassten Impfstoff warten soll. Zuletzt hatte Moderna vielversprechende Daten dazu veröffentlicht. Doch da winkt Molekularbiologe Elling ab: "Die neuen von Moderna vorgelegten Daten zeigen zwar eine bessere Wirksamkeit, allerdings bei weitem nicht so eine gute wie gegen alle Vor-Omikron-Varianten."

Dazu komme, dass die Studien mit der BA.1-Variante gemacht wurden. "Die aktuellen umgehen diesen Immunschutz aber alle sehr gut, Genesene können sich explizit wieder anstecken. Deshalb ist davon auszugehen, dass auch die Impfung nicht vor Ansteckung mit BA.5 schützt." Zusätzlich ist der Impfstoff noch gar nicht zugelassen. Bis das geschehe, werde die Welle vermutlich schon wieder vorbei sein.

Immunstatus immer schwieriger zu bestimmen

Ohnehin sei der Immunstatus immer schwieriger zu bestimmen. Denn, erklärt Elling, kommt man das erste Mal mit dem Virus in Kontakt, bildet der Körper ein Repertoire an Werkzeugen aus, mit denen er es bekämpfen kann – die Antikörper. Bei weiteren Kontakten werden keine neuen Werkzeuge gebildet, sondern aus jenen, die bereits vorhanden sind, die am besten funktionierenden weiter ausgebildet.

"Diese Werkzeuge sind aber nicht bei allen die gleichen. Es macht einen Unterschied, ob man sich zuerst mit Alpha infiziert hat und dann geimpft wurde, oder ob man mit Impfschutz eine Delta- oder Omikron-Infektion hatte. Man hat etwa gesehen, dass jene, die zuerst eine Alpha-Infektion hatten und dann geimpft wurden, keine so guten Werkzeuge gegen Omikron ausgebildet haben. Es gibt also, was den Immunstatus betrifft, sehr viele individuelle Voraussetzungen. Das macht es aber schwieriger, allgemeine Aussagen darüber zu treffen."

Man kennt diesen Prozess bereits von Influenza: Je nachdem, mit welchem Virusstamm der Erstkontakt war, entwickelt sich die Immunität gegenüber weiteren Stämmen. In diesem Zusammenhang ist auch die Bestimmung der Antikörper deutlich weniger aussagekräftig für eine realistische Bewertung des Schutzes vor Ansteckung. (Pia Kruckenhauser, 21.6.2022)