Menschliche Figuren mit Objektcharakter: Leo Mayrs "Humans of Late Capitalism" aus Keramik sind alltägliche Protagonisten – ungeschönt und lebensnah.

Foto: Joseph Thanhäuser

Während heutige Eliten durch manisches Bemessen und ökonomische Verwertung von allem immer mehr Macht anhäufen, stellt sich die Frage nach der Kunst wieder ganz neu. Mehr denn je scheinen Kunstschaffende abhängig von Konjunkturen, die entweder auf den Marktwert eines Werks oder dessen "Nutzen" respektive Relevanzwert abzielen.

Die Debatten darüber sind unübersichtlich. Möglicherweise liegt darin ein Vorteil. Denn so kann sich keine allgemeine Ideologie dauerhaft über künstlerisches Schaffen stülpen. Das sichert auch jene Vielfalt, wie sie an den aktuellen Abschlussarbeiten abzulesen ist, die gerade an mehreren Standorten der Akademie der bildenden Künste Wien präsentiert werden.

Eines der großen Themen dieser Werke ist die Positionierung des Individuums in den Dynamiken der Gesellschaft. Zu sehen etwa in den großformatigen Fotos unter dem Titel und dann … und dann / a body of work von Lisa Schwarz. Ihre Handykamera gibt die Bildformate – 9:16 – vor, die Plattform Instagram den Duktus der "Story". Schwarz’ Selbstbeobachtungen zeigen Schatten und Vulnerabilität, und sie konterkarieren die spekulativen Selfie-Bildausschnitte bei den Selbstvermarktern im Netz der Aufmerksamkeitsökonomie.

Europäische Menschenrechte in Twitterformat: Karolina Gruschka entlarvt das soziale Medium sowie gesellschaftliche Instrumente.
Foto: Karolina Malwina Gruschka

Diese Werkgruppe wird in der Exhibit Galerie des Haupthauses am Schillerplatz präsentiert, zusammen mit acht weiteren Positionen. Darunter befindet sich Leon Höllhumers performative Installation Verunglücktes Date, in der es ebenfalls um emotionale Verletzungen geht. Hinter der ironischen Distanz eines Rückblicks steht die Frage: "Welche Opfer sind wir bereit zu bringen, und welche Form von Opferketten bringt es mit sich? Was oder wer ist das ultimative Opfer in einem kapitalistischen System?"

Revolte der Objekte

Ein weiteres unter den Themen der Studierenden ist die Auseinandersetzung mit unserer Welt der Instrumente. Karolina Gruschkas HexConreimagining human rights through Twitter and glitch gibt dem "sozialen" Medium Twitter einen entlarvenden Auftritt am Akademie-Standort Eschenbachgasse. Eine "Ominous Black Box" dient als Server, auf 18 Bildschirmen sind die Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention in einem Prozess wiedergegeben, der die Daten der Texte durch Tweet-Glitches kontaminiert. Als Ergänzung ist ein gigantisch dickes Buch beigefügt: The Archive, in dem die Twitter-Einträge eines Monats (250.000!) zum Thema Menschenrechte abgedruckt sind.

In HexCon überschneidet sich Kritik an der institutionellen Nichtumsetzung der Menschenrechte mit einer prinzipiellen Reflexion über die sozialen Medien. Während die Funktion der klassischen Medien als Gatekeeper der Informationen schrumpft, stellen sich andere, größere Wächter auf: Sie schirmen die Metadaten von Kommunikationsgiganten wie Twitter vor der Öffentlichkeit ab.

Eine stille Revolte der Objekte untersucht Gleb Amankulov in Stalagmite Eyes: "A masterly escape from utilitarian gaze and refusal to represent and perform any functions that they were produced for." Der Künstler unterstützt die Dinge bei ihrem Sabotagewerk, denn heute gilt verstärkt, was die armenische Historikerin Marietta Schaginjan (Autorin des Kriminalromans Mess-Mend) schon 1924 feststellte: "Der Besitzer von Dingen ist derjenige, der sie erschafft. Der Sklave der Dinge ist derjenige, der sie nützt."

Kunst ist immer noch Ding: pink-silbrige Kunststoffskulpturen aus Karbonmatten, Bioharz und Glitzer von Angela Fischer.
Foto: eSeL.at / Joanna Pianka

Das zu erkennen und zu akzeptieren ist schwer, denn die meisten Dinge werden als seduktive Fetische – Stichwort Produktbindung – designt. Darüber mokiert sich beispielsweise Aurelia van Kempen mit einem Start-up, in dem sie nach allen Regeln des Marketings rote und blaue Latex-Hendln samt Nebenprodukten vertickt.

Daran, dass auch das Kunstwerk ein Ding ist, erinnert Angela Fischer mit ihren die Op-Art zitierenden Bildern und pink-silbrigen Kunststoff-Skulpturen aus Karbonmatten, Bioharz und Glitzer. Doch das eigentliche Kunstobjekt stellt – auch bei diesen Abschlussarbeiten – meist ein materialisiertes Experiment der sozialen Kommunikation dar, das die von Schaginjan angesprochenen Nutzer-Sklaven-Verhältnisse konterkariert.

Spätkapitalismus-Figuren

Wenn die menschliche Figur zu einem solchen Objekt wird wie bei Leo Mayrs Keramikfiguren unter dem Titel Humans of Late Capitalism im Exhibit am Schillerplatz, transformiert sich der konsumverbundene Dingcharakter und stellt sich einem kritischen Blick-Spiel zur Verfügung. Mayrs Skulpturen repräsentieren Alltagsfiguren, wie sie der Künstler vor und während der Corona-Zeit beobachtet hat. Hier wird die Gesellschaft grundlegend anders abgebildet als von den Kamera-Apparaten der Medienunternehmen.

Neben zahlreichen anderen Abschlussarbeiten in den verschiedenen Räumlichkeiten der Akademie gibt es im Belvedere 21 (Skulpturengarten und Blickle Kino, 23. Juni ab 18 Uhr) unter dem Titel HAii auch ein Showing der Studierenden im Fach Performative Kunst zu sehen. (Helmut Ploebst, 20.6.2022)