Dimitar Kovačevski über die EU-Ambitionen der Ukraine, Georgiens und Moldaus: "Wenn sie die europäischen Werte teilen wollen, dann unterstützen wir das."

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STANDARD: Nordmazedonien hat das EU-Abkommen vor 21 Jahren abgeschlossen. Was können die anderen Westbalkanstaaten von Nordmazedonien lernen?

Kovačevski: Nordmazedonien hatte ab seiner Unabhängigkeit zwei strategische Ziele: die Mitgliedschaft in der Nato und in der EU. Am 20. Jahrestag unserer Unabhängigkeit haben wir die Mitgliedschaft in der Nato gefeiert. Wir haben bewiesen, dass wir den Konsens üben, Brücken bauen und gute Nachbarschaftsbeziehungen aufbauen. Wir haben die Rechte all jener Bürger und Bürgerinnen gestärkt, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören.

STANDARD: Trotz all dieser Erfolge konnten aber die EU-Verhandlungen wegen des Vetos von Bulgarien bisher nicht beginnen.

Kovačevski: Der EU-Integrationsprozess basiert eigentlich auf Leistungen. Deshalb haben wir viele Reformen gemacht, und 45 Prozent unseres Rechtsbestand sind bereits mit jenem der EU harmonisiert. Wir haben eine höhere Harmonisierung als Staaten, die bereits seit zehn Jahren verhandeln. Aber statt eines leistungsbasierten Prozesses ist die EU-Integration eine rein politische Frage geworden. Zuerst war es die offene Frage mit Griechenland, die mit dem Prespa-Abkommen gelöst wurde, und jetzt ist es wieder eine politische Frage mit Bulgarien. Aber nun liegt es einfach nicht mehr an uns! Wir haben ja alles getan!

STANDARD: Nordmazedonien ist bereits in der zweiten Phase des EU-Abkommens. Könnten Sie beantragen, dass Sie die vier Grundfreiheiten (Kapital, Personen, Dienstleistungen, Waren) mit der EU bekommen?

Kovačevski: Wir können fragen, aber das hängt wieder von der Entscheidung im EU-Rat ab. Doch wenn es irgendwer verdient hat, mit den EU-Verhandlungen zu beginnen, dann ist es Nordmazedonien, insbesondere in diesem geostrategischen Moment, nach der Invasion Russlands in der Ukraine. Denn die Erweiterung der EU ist nun zu einer geostrategischen Frage geworden. Wenn die EU nicht ihre Versprechen einhält und der Prozess nicht mehr auf Leistungen beruht, nimmt die Glaubwürdigkeit der EU ab. Sobald die Glaubwürdigkeit abnimmt, wächst der Nationalismus wieder in der Region. Gleichzeitig füllen Drittstaaten, die nicht wollen, dass die Region in die EU integriert wird, sofort den Freiraum, und sie beginnen, hybride Aktivitäten zu entwickeln. Dazu gehört negative Medienberichterstattung mittels Propagandisten, welche die öffentliche Meinung von der EU abbringt.

STANDARD: Ist es in russischem Interesse, dass Nordmazedonien nicht verhandeln kann?

Kovačevski: Das ist es. Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur ein Angriff auf die Souveränität und die Integrität eines Staates, sondern auch ein Angriff der Autokratie auf die Demokratie. Wir haben uns als Bürger entschieden, dass wir eine demokratisches Land schaffen wollen. Von einem sozialistischen Land vor 30 Jahren haben wir uns zu einer liberalen Marktwirtschaft entwickelt, mit allen Institutionen, die Freiheiten für die Bürger gewährleisten. Wir haben jetzt eine Regierung, die die Situation in allen Bereichen verbessert hat. Das bestätigen Amnesty International, die Wirtschaftsdaten und Reporter ohne Grenzen. Nordmazedonien hat in den vergangenen fünf Jahren nicht nur die meisten Fortschritte von allen in der Region gemacht, sondern vielleicht auch in ganz Europa. Vor zehn Jahren hatten wir hier ein autokratisches Regime, der Staat war von privaten und parteilichen Interessen unterlaufen. Jetzt sind wir wieder eine Demokratie. Wenn die EU aber keinen klaren Fahrplan für dieses Land aufzeigt, dann wird wieder Raum für den Einfluss von Drittstaaten, darunter Russland, aber auch für andere Parteien geschaffen. Und wir haben hier Parteien, die ganz klar gegen die EU und die Nato sind, und manche davon sind im Parlament. Während unser Parlamentspräsident in Kiew war, war ein Repräsentant von dieser Partei in Moskau.

STANDARD: Wenn Bulgarien das Veto gegen Nordmazedonien nicht aufhebt, was machen Sie dann?

Kovačevski: Unser Ziel ist der Beitritt zur EU. Es gibt keine Alternative. 80 Prozent unseres Außenhandels sind mit der EU, 80 Prozent der Auslandsinvestitionen sind von der EU, die mazedonischen Bürger, die im Ausland leben, leben zum Großteil in der EU, und sie machen Auslandsüberweisungen hierher. Die Institutionen und das Management dieses Staates wurden gemeinsam mit der EU reformiert. Also ist der einzige Platz dieses Landes innerhalb der EU.

STANDARD: Trotzdem, was tun Sie, wenn Bulgarien das Veto nicht aufhebt?

Kovačevski: Als Erstes einmal muss die EU wagemutiger sein und mehr Stärke zeigen, um sich selbst und die Mitgliedsstaaten zu überzeugen, dass das ein wichtiger Schritt ist.

STANDARD: Fühlen Sie sich von der EU und den Mitgliedsstaaten verlassen?

Kovačevski: Ich fühle mich nicht verlassen, weil wir immer eine Freileitung mit den Präsidenten der EU-Institutionen haben. Wir müssen aber eine Lösung mit Bulgarien suchen. Aber es liegt jetzt wirklich gar nicht mehr an uns, was passieren wird, vor allem wenn man sich die Dynamik in Bulgarien ansieht (die Regierung hat die Mehrheit im Parlament verloren, und ein Misstrauensvotum steht an, Anm. d. Red.). Aber eine mögliche Lösung muss auf europäischen Werten gründen und würdig für die Bürger beider Staaten sein.

STANDARD: Der französische Präsident Emmanuel Macron hat eine Alternative zur Vollmitgliedschaft vorgeschlagen, einen Beitritt zu einer Energie- und Transportunion. Es gibt auch einen Vorschlag der Europäischen Stabilitätsinitiative, dass die Westbalkanstaaten dem Binnenmarkt beitreten sollen, und den Vorschlag aus Österreich, dass sie zunächst nur in Teilbereichen beitreten sollen. Was halten Sie davon?

Kovačevski: Zunächst haben wir niemals etwas Schriftliches gesehen. Es gab nur eine Pressekonferenz von Macron. Bleichzeitig müssen wir in Erinnerung rufen, dass es genau dieser Präsident Macron war, der vor ein paar Jahren ein neue Erweiterungsmethode vorgeschlagen hat. Wir haben einen Prozess laufen, der von Macron vorgeschlagen wurde, und da geht es um die Erweiterung der EU und um jene Staaten, die bereits Schritte in die EU gemacht haben. Dieser Prozess soll bleiben, es gibt ja auch bereits die entsprechenden Institutionen. Daneben gibt es noch einen andere Initiative, da geht es um eine politische Erklärung, die sich an jene Staaten im Osten Europas wendet, die nicht die Voraussetzungen erfüllen, um schnell in die EU integriert zu werden, also die Republik Moldau, Georgien und die Ukraine. Sie haben das Recht, zu wählen, wo sie ihre Zukunft sehen. Wenn sie die europäischen Werte teilen wollen, dann unterstützen wir das.

STANDARD: Gleichzeitig könnten die Ukraine und Moldau nun einen EU-Kandidatenstatus bekommen, und Bosnien-Herzegowina und der Kosovo haben noch immer keinen.

Kovačevski: Wir waren mit Bosnien-Herzegowina im selben Staat. Die Bosnier sind großartige Leute, egal welcher Volksgruppe sie angehören! Das ist genauso ein multikultureller und multikonfessioneller Staat, wie wir das sind. Die bosnischen Bürger verdienen es, in einem Staat zu leben, welcher alle Vorrechte eines europäischen Staats garantiert.

STANDARD: Bosnien-Herzegowina ist auch ein Staat, in dem es einen sehr starken russischen Einfluss gibt. Es könnte sein, dass Russland die Militärmission Eufor-Althea im Herbst im UN-Sicherheitsrat nicht mehr verlängert. Dann könnte eine Nato-Mission nach Bosnien-Herzegowina kommen. Würden Sie als Nato-Staat so eine Mission unterstützen?

Kovačevski: Wir sind ein Nato-Staat, und die Entscheidungen der Nato sind auch unsere Entscheidungen! Wir unterstützen demnach die territoriale Integrität und den Frieden in Bosnien-Herzegowina. Russland hat nicht nur Einfluss in Bosnien-Herzegowina, sondern auch in Nordmazedonien und in Bulgarien. Er ist überall auf dem Westbalkan. In manchen Staaten hat Russland mehr Infrastruktur, in manchen weniger. In Nordmazedonien haben wir beobachtet, wie Russland seine Infrastruktur aufbaute, als wir der Nato beigetreten sind. Der russische Einfluss ist auch gewachsen, als die EU die Covid-19-Impfungen nicht geliefert hat, danach während der Anti-Impf-Bewegung und jetzt immer, wenn ein EU-Gipfel bevorsteht. Da kommt es zu hybriden Aktivitäten, die immer stärker und schneller werden. Jetzt vor dem Gipfel am 23. Juni ist das auch zu sehen. Und die einzige Art, wie wir das bekämpfen können, ist ein klarer Fahrplan für die EU-Integration der Staaten des westlichen Balkans. Dazu gehört die Unterstützung des Friedens und der Integrität von Bosnien-Herzegowina, das Land muss auf dem EU-Weg bleiben, weil Bosnien das verdient.

STANDARD: Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Montenegro sind anders als Nordmazedonien, Serbien und Albanien nicht Teil der Open-Balkan-Initiative. Alle sind aber Teil des Berlin-Prozesses. Spaltet die Open-Balkan-Initiative die Region?

Kovačevski: Der Berlin-Prozess beruht auf Konsens – wenn ein Staat nicht zustimmt, dann passiert nichts. Die Open-Balkan-Initiative ist eine Idee von Serbien, Nordmazedonien und Albanien. Es geht um die vier Grundfreiheiten (Kapital, Personen, Dienstleistungen, Waren), und darauf beruhen die Abkommen, die geschlossen wurden. Der Handel soll verstärkt werden. Die anderen Staaten können daran teilnehmen. Vertreter von Bosnien-Herzegowina und Montenegro waren beim letzten Gipfel dabei. Aber es können auch EU-Staaten daran teilnehmen. Wir wollen auch attraktiver für die EU werden, indem wir uns als ein gemeinsamer Markt von zwölf oder 15 Millionen Menschen präsentieren. (Adelheid Wölfl, 21.6.2022)