Die kommenden Jahre werden für Frankreichs eben erst wiedergewählten Präsidenten Emmanuel Macron kompliziert.

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Die Überraschungskandidatinnen Edwige Diaz ...

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... und Rachel Keke ziehen ins Parlament ein.

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Reinemachen in der Pariser Nationalversammlung: Dutzende bisherige Macron-Abgeordnete wurden am Sonntag an den Wahlurnen buchstäblich aus dem Parlament gefegt. An ihre Stelle treten neue Gesichter wie Rachel Keke, ehemalige Reinigungskraft in einem Pariser Hotel. Die 48-jährige Einwandererin aus Côte d’Ivoire hatte 2019 mit anderen Kolleginnen aus Afrika gegen ihre Arbeitsbedingungen gestreikt und gewonnen, obwohl sie damals noch schlecht Französisch sprach. Am Sonntag siegte die Kandidatin der Linkspartei "Die Unbeugsamen" erneut – sogar gegen eine prominente Sportministerin der Macron-Regierung.

Jean-Luc Mélenchons Neue ökologische und soziale Volksfront (Nupes) stellt in der neu gewählten, 577-köpfigen Nationalversammlung 131 Abgeordnete. Das ist das Doppelte des früher getrennten Bestandes von Sozialisten, Grünen, Kommunisten und Unbeugsamen.

Noch spektakulärer ist der Vormarsch der Rechtspopulisten. Der Rassemblement National (RN) erobert 89 Sitze – mehr als zehnmal so viele wie bisher. Ein politischer "Tsunami", erklärte RN-Interimschef Jordan Bardella zu Recht.

Ex-Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen wurde in ihrem Wahlkreis in Nordfrankreich mit 61 Prozent wiedergewählt. Ihr Erfolg strahlte bis in den politisch gemäßigten Westen aus, wo die Lepenisten bisher kaum vertreten waren. In einem Wahlkreis des Bordeaux-Weingebietes setzte sich zum Beispiel Edwige Diaz durch, eine 33-jährige Projektentwicklerin mit Spanisch-Abschluss. Sie war über die Konservativen in die Politik gekommen, bevor sie zu Le Pen überlief. Sie wolle die Weinbergarbeiter und Arbeitslosen des Bordeaux-Gebietes Côtes de Blayes verteidigen, sagte sie im Wahlkampf.

Neue Gesichter

Keke auf der Linken, Diaz auf der Rechten: Solche Abgeordnete verkörpern das Bild der neuen französischen Nationalversammlung. Und auch die erstarkte Opposition gegen den geschwächten Präsidenten. Emmanuel Macrons Allianz Ensemble erlitt am Sonntag eine schwere Schlappe: Sie kommt nur noch auf 245 Sitze und ist damit weit entfernt von der absoluten Mehrheit von 289 Sitzen.

Eine ähnliche Konstellation gab es in Frankreich, wo der Staatschef normalerweise eine bequeme Regierungsmehrheit hat, zuletzt im Jahr 1988: Damals fehlten dem sozialistischen Premierminister Michel Rocard von Präsident François Mitterrand 15 Stimmen, die er bei jeder Abstimmung mühsam erwerben musste. Macron fehlen nun gleich 44 Stimmen. Eine fast unmögliche Mission für seine Premierministerin Elisabeth Borne. Infrage kommen als Stimmlieferanten eigentlich nur die konservativen Republikaner, die 61 Sitze erobert haben und erstmals hinter die Lepenisten zurückgefallen sind. Ihr Parteichef Christian Jacob erklärte indessen kategorisch, seine Partei werde "in der Opposition bleiben".

"Jupiter" hat ausgespielt

Macron ist jedoch ein gewiefter Taktiker und Charmeur, der in seiner ersten Amtszeit seit 2017 schon zahlreiche Links- und Rechtspolitiker auf seine Seite gezogen hatte. Er wird versuchen, Mélenchons Nupes-Union zu spalten und gemäßigte Sozialdemokraten und Grüne auf seine Seite zu ziehen. Aber sie werden einen hohen politischen Preis verlangen. Eine ungewohnte Situation für Macron: Er, der absolute Staatschef, ist ab sofort Minderheitspräsident. "Er wird nicht länger Jupiter spielen können", prophezeit der Politologe Pascal Perrineau.

Wirtschaftsminister Bruno Le Maire räumte ein, der Präsident brauche nun "viel Fantasie", um die nötigen Parlamentsstimmen für seine Reformvorhaben zusammenzubringen. Die erste Prüfung wartet schon Anfang Juli, wenn Premierministerin Borne ihre Regierungserklärung abgeben soll – falls sie dann überhaupt noch im Amt ist. Die Nupes-Linke will schließlich ein Misstrauensvotum einbringen. Dabei wird sich erstmals zeigen, wie geschlossen Links- und Rechtspopulisten gegen Macron stimmen werden.

Einzelne Medien wie La Dépêche du Midi fragen bereits, ob Frankreich "regierbar" bleiben werde. Sie befürchten, dass der Pariser Nationalversammlung "italienische Verhältnisse" mit wechselnden Mehrheiten und Regierungen drohen.

Diese Ängste sind fürs Erste übertrieben. Frankreich verfügt mit dem Amt des Staatspräsidenten über einen soliden Machtpol. Tatsache ist aber auch, dass die von Charles de Gaulle 1958 begründete Fünfte Republik an ihre Grenzen stößt. Der Demoskop Jérôme Sainte-Marie meinte am Montag, die Parlamentswahlen offenbarten "eine verdeckte Krise" der Institutionen. Eine Krise mehr, ist man versucht zu sagen. Macron steht erst am Anfang seiner Mühen. (Stefan Brändle aus Paris, 20.6.2022)