Ofelia (14) hält ihre Schwester Dora (9) im Arm. Als Einzige ihrer Familie haben sie einen Murenabgang überlebt, der von Hurrikan Eta im November 2020 ausgelöst wurde.

Foto: AP/Rodrigo Abd

Guatemala leidet in nahezu beispielloser Weise unter den Folgen des Klimawandels. Es zählt zu jenen Nationen, welche die Konsequenzen der globalen Erwärmung am stärksten zu spüren bekommen. Zur Verschärfung der Lage trägt die fortschreitende Zerstörung der Natur bei, die durch ein auf schnelles Wachstum ausgelegtes Wirtschaftssystem befeuert wird. Wie soziale Ungleichheiten dadurch noch weiter wachsen, zeigt die Klimastudie "Beyond Panic" des Vereins Südwind, in der auch das Beispiel des mittelamerikanischen Staates behandelt wird.

Im Rahmen der Südwind-Initiative "Climate Of Change" war Juan José Hurtado, Direktor der gemeinnützigen Asociación Pop No’j, zu Gast in Wien. Der guatemaltekische Experte für Migrationsfragen erzählte bei einem Hintergrundgespräch von den Auswirkungen des Klimawandels, verstärkenden Faktoren und klimabedingter Migration. Diese treffe in Guatemala besonders die ärmsten Bevölkerungsgruppen, denen es vielfach an Anpassungsmöglichkeiten und finanziellen Mitteln fehlt. So gerät der Klimawandel zur sozialen Krise, die zahlreiche indigene Gemeinschaften dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen.

STANDARD: Guatemala ist eines der Länder, das am stärksten vom Klimawandel betroffen ist. Auf welche Weise äußert sich das?

Hurtado: Wir haben abwechselnd extreme Ereignisse wie Dürren oder Stürme. Auch die Temperaturen steigen. Das zieht vornehmlich die Landwirtschaft in Mitleidenschaft, die etwa mit neuen Schädlingen zu kämpfen hat. Davon abgesehen hat sich auch das Muster der Niederschläge verändert. Die Regenzeit dauert im Normalfall von Mai bis Oktober. Aber inzwischen haben wir enorm viel Niederschlag, dann Dürre und dann wieder enormen Starkregen. Das führt zu starker Erosion und verursacht immer wieder Katastrophen. In niedrig gelegenen Gebieten sind das Überschwemmungen. Es gibt aber auch viele Gegenden, in denen das Terrain sehr steil ansteigt. Dort verursachen Starkregen und Stürme Murenabgänge und Hangrutschungen. Hinzu kommen verheerende Hurrikans, zuletzt Eta und Iota im November 2020.

STANDARD: Wie wirkt sich all das auf die indigene Bevölkerung aus?

Hurtado: Der Klimawandel zieht die ganze Welt in Mitleidenschaft, jeden von uns. Trotzdem ist die Situation nicht für jeden von uns die gleiche, Menschen sind auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Wir sehen, dass Indigene am stärksten betroffen sind, außerdem Frauen, junge Menschen und Menschen mit Einschränkungen oder Beeinträchtigungen.

STANDARD: Inwiefern?

Hurtado: Was sie gefährdet, sind Ernteausfälle, Entkapitalisierung kleiner Familien, steigende Armut und eine enorm unsichere Lebensmittelversorgung. All das führt zur Verdrängung der Bevölkerung, die entweder innerhalb des Landes migriert oder das Land verlässt und versucht, in die USA zu gelangen.

STANDARD: Neben dem Klimawandel trägt auch das Wirtschaftssystem zur Vertreibung von Menschen bei. Wo sehen Sie das größte Problem?

Hurtado: Das größte Problem stellen in dieser Hinsicht Großgrundbesitzer dar, die lediglich Monokulturen anbauen. In Guatemala sind das vornehmlich Zuckerrohrplantagen. Dafür wird Wasser im großen Stil umgeleitet, zudem werden auf den Plantagen eine Menge chemischer Düngemittel und Pestizide eingesetzt, die Trinkwasserquellen verunreinigen. So führen Monokulturen dazu, dass Menschen, und speziell Indigene, ihre Heimat verlassen müssen. Ein weiteres Problem ist, dass die Landfläche, die für den Anbau von Ölpalmen genutzt wird, stetig steigt und das die Entwaldung vorantreibt. Ein anderes Problem ist der Bergbau. Guatemala ist eigentlich ein sehr reiches Land, da wir über sehr viele Ressourcen verfügen. Dennoch leben so viele Menschen in Armut, das ist ein absoluter Widerspruch. Aber die Ressourcen gehören und nützen eben nicht allen, sondern nur einer sehr kleinen Minderheit. Dadurch entstehen Konflikte um Land, die auch Verletzungen der Menschenrechte zur Folge haben.

"Aber in einer Welt der endlichen Ressourcen können wir nicht endlos Ausbeutung betreiben. Wir müssen unser Denken verändern, oder wir werden zugrunde gehen." – Juan José Hurtado

STANDARD: Zahlreiche Studien belegen, dass indigene Völker zu den wichtigsten Schutzfaktoren für Natur und Biodiversität zählen. Zeigt sich das auch in Guatemala?

Hurtado: Biodiversität steht in starkem Zusammenhang mit ethnischer Diversität. Diese zwei Dinge gehen Hand in Hand. In Guatemala ist die Biodiversität in den Regionen am höchsten, in denen indigene Gruppen leben. Vor der Ankunft der Spanier waren diese Gruppen im ganzen Land verbreitet.

Juan José Hurtado plädiert für einen Paradigmenwechsel, um die verheerenden Folgen des Klimawandels einzudämmen.
Foto: Asociación Pop No’j

STANDARD: Und heute?

Hurtado: Da sich die besten und fruchtbarsten Anbaugebiete in den südlichen und den nordöstlichen Regionen des Landes befinden, wurde die indigene Bevölkerung vertrieben und gezwungen, ins Hochland abzuwandern. Genau dort ist die Armut heute am höchsten, die meisten Indigenen gehören zu den ärmsten Menschen in Guatemala.

STANDARD: Wie könnte man diesem Pulk an Problemen begegnen, um die Lage zu verbessern?

Hurtado: Jeder von uns braucht die Landwirtschaft, denn jeder braucht Lebensmittel. Das muss anerkannt, die müssen besser bezahlt und fairer Handel muss etabliert werden. Außerdem können wir sehr viel vom umfassenden Wissen indigener Völker lernen. In der Kultur der Maya gibt es das Prinzip der Gegenseitigkeit und das Verständnis, dass alles um uns herum von Leben erfüllt ist und bewahrt werden muss. Wenn wir alle Kinder von Mutter Erde sind, sollten wir sie nicht ausbeuten, sondern schützen. Das ist eine völlig andere Denkweise. Die Schwierigkeit ist, dass wir einen völligen Paradigmenwechsel brauchen. Derzeit geht es darum zu akkumulieren. Aber in einer Welt der endlichen Ressourcen können wir nicht endlos Ausbeutung betreiben. Wir müssen unser Denken verändern, oder wir werden zugrunde gehen. (INTERVIEW: Marlene Erhart, 11.7.2022)