Nicht immer läuft Pflege so beschaulich ab: Sowohl professionelle Kräfte als auch Angehörige fühlen sich nicht selten überfordert.

Foto: Regine Hendrich

Es war nicht nur die Regierung, die von einem "Meilenstein" sprach: Auf viel Lob stieß jene Pflegereform, die ÖVP und Grüne Mitte Mai vorstellten. An der Stoßrichtung – den Personalmangel in der Pflege bekämpfen – konnte kaum jemand etwas aussetzen.

Einerseits soll der Beruf selbst attraktiver werden, weshalb eine Gehaltsaufbesserung und ab dem Alter von 43 Jahren eine "Entlastungswoche" winken. Andererseits gilt es, mehr Menschen vom jüngeren bis zum mittleren Alter zu rekrutieren – dazu dient etwa ein Zuschuss von 600 Euro pro Monat für die Erstausbildung oder ein Pflegestipendium von 1.400 Euro für Um- und Wiedereinstieg. Verbesserungen für pflegende Angehörige runden das Paket ab.

Doch es wäre nicht zum ersten Mal, dass vollmundige Ankündigungen mehr versprechen, als konkrete Regelungen halten. Die parlamentarische Begutachtung bot bis Dienstag die Möglichkeit, wenn schon nicht dem Teufel, so zumindest der Tücke im Detail auf die Spur zu kommen – und tatsächlich fanden Hilfsorganisationen, Gewerkschaft und Co viel zu beanstanden.

Geld auf Zeit

Ein Herzstück ist der "Bundeszuschlag" für Pflegerinnen und Pfleger: Die Bundesregierung stellt 520 Millionen Euro zur Verfügung, die als monatlicher Gehaltsbonus zu verteilen sind. Wie genau, das müssen Länder und Sozialpartner aushandeln – im Schnitt soll pro Kopf ein zusätzliches Monatsgehalt herausschauen.
Doch der Bonus ist auf die Jahre 2022 und 2023 begrenzt. Eine befristete Aufbesserung sei zu wenig Anreiz, um in den Beruf einzusteigen, kritisiert die Volkshilfe analog zu anderen Organisationen und fordert eine Festlegung auf eine dauerhafte Gehaltserhöhung.
Diese scheitert aber erst einmal daran, dass dafür die Länder zuständig wären. Ob und in welchem Ausmaß diese die Mehrkosten nach 2023 weitertragen, muss noch ausverhandelt werden. Dass das Gehaltsplus wieder ersatzlos gestrichen wird, ist aber unwahrscheinlich – da wäre der Aufschrei zu groß.

Ausschluss vom Gehaltsplus

Was am Bundeszuschlag überdies verärgert: Geld gibt es für diplomierte Pflegerinnen und Pfleger sowie für die Assistenzkräfte, nicht aber für andere Gruppen wie etwa das Heimhilfepersonal. Gute Pflege hänge von diesen Bediensteten genauso ab, bemängelt die Diakonie stellvertretend für andere Kritiker: Dass ein Teil des Teams profitiert, ein anderes aber nicht, sei ungerecht.

Man habe sich auf die Pflegeberufe konzentriert, weil sich dort ein erheblicher Fachkräftemangel abzeichne, heißt es aus dem Büro von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne). Aber dieser werde sich alle Kritikpunkte "seriös" anschauen – Nachbesserungen nicht ausgeschlossen: "Diese Pflegereform ist ein erster Schritt, weitere müssen folgen."

Begrenzter Angehörigenbonus

Noch eine umstrittene Einschränkung: Pflegende Angehörige erhalten ab 2023 nur dann 1.500 Euro zum Pflegegeld dazu, wenn sie bei der Pensionsversicherung selbst oder weiterversichert sind und die betreute Person zumindest in der Pflegestufe vier ist. Laut Sozialversicherung erfüllen diese Kriterien nur 24.000 der rund 950.000 pflegenden Angehörigen. Pensionistinnen sind damit de facto ausgeschlossen, kritisiert etwa das Rote Kreuz.

Warum so eng gefasst? Dem Vernehmen nach steckt dahinter ein Kompromiss. Während die stark auf die Rolle der Familien setzende ÖVP auf großzügigere Unterstützung gedrängt habe, hätten dem die Grünen eine Befürchtung entgegengehalten: Ein umfassender Angehörigenbonus wäre ein Anreiz, dass die Pflegearbeit statt professionellen Kräften nur noch mehr den Frauen im privaten Kreis umgehängt werde.

Aus eben diesem Motiv findet es Ulrike Famira-Mühlberger richtig, dass der Bonus eng gefasst ist. Österreich sei gut beraten, wie die meisten westeuropäischen Länder stärker auf öffentliche Pflegedienstleistungen statt auf die Angehörigen zu setzen, sagt die Expertin vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Denn das alte Modell wackle aus mehreren Gründen: Mit guter Bildung ausgestattet, drängen immer mehr Frauen in bezahlte Jobs, statt zu Hause zu bleiben. Die Kinder wohnen häufiger weiter weg und sind um so viel jünger als ihre Eltern, dass sie noch mitten im Arbeitsleben stehen, wenn Vater oder Mutter zum Pflegefall werden.

Anschein und Wirklichkeit

79 Prozent aller Pflegegeldbezieher werden mehrheitlich zu Hause betreut, 41 Prozent ohne jegliche professionelle Unterstützung. Erstaunlicherweise ist sich die Bevölkerung dessen aber nur begrenzt bewusst. Laut einer Umfrage unter 1.000 Personen über 14 Jahren, die das Gallup-Institut mit dem Wifo für einen Meinungscheck durchgeführt hat, herrscht der Glaube vor, dass die Hälfte der Betroffenen in betreuten Einrichtungen gepflegt werde.

Anderes überraschendes Ergebnis: Viel mehr Menschen (45 Prozent) sprechen sich für eine Pflegeversicherung aus als für eine Finanzierung aus Steuergeld (zehn Prozent), wie sie in Österreich der Fall ist. Dies liege wohl daran, dass mit letzterer Variante wenig Transparenz und Anspruchssicherheit verbunden werde, glaubt Famira-Mühlberger: Steigt wegen der Demografie der Kreis der Betroffenen, muss die Politik die Finanzierung erst verhandeln.

Als Ökonomin rät sie aber von einem Umstieg auf ein Modell wie bei der Kranken- oder Pensionsversicherung ab: Dies würde geringe Einkommen relativ mehr belasten und – weil höhere Lohnnebenkosten – Wachstum und Beschäftigung bremsen.

In Summe geht die Pflegereform für Famira-Mühlberger "absolut in die richtige Richtung", doch getan sei es damit bei weitem nicht. Viel müsse noch passieren – angefangen beim Ausbau der verschiedenen Angebote für Pflegebedürftige. (Gerald John, 21.6.2022)