Wenn Sie abends einem nahestehenden Menschen ins Gesicht blicken, stehen die Chancen gut, dass dort – ungesehen vom unbewaffneten menschlichen Auge – gerade ein kleines Volk aus dem Schlaf erwacht. Die mikroskopisch kleinen Individuen, die in unseren Haarfollikeln leben, kommen in der Dämmerung hervor, um sich fortzupflanzen. Doch die Paarung ist ein Kraftakt – und ihre hochspezialisierte Lebensweise hat sie in eine evolutionäre Sackgasse manövriert.

Die Wissenschaft kennt die Tierchen unter der Bezeichnung Demodex folliculorum, auf Deutsch: Haarbalgmilbe. Im Unterschied zu vielen bekannten Milbenarten sind diese Wesen länglich und ähneln äußerlich eher einem Bärtierchen mit Schwanz. Trotz ihrer buchstäblich engen Verbundenheit mit uns ist das Wissen über unsere meist harmlosen kleinen Untermieter immer noch reichlich lückenhaft.

Der Körper der Haarbalgmilben ist annähernd durchsichtig und im Schnitt 300 Mikrometer lang. Meist teilen sich zwischen zwei und sechs der Milben ein Haarfollikel.
Foto: K.V. Santosh

Sequenzierte Milben-DNA

Einem internationalen Forschungsteam unter der Beteiligung von Alejandro Manzano Marín von der Universität Wien ist es nun gelungen, ein genaueres Bild vom Leben der Demodex-folliculorum-Milbe zu zeichnen – und bisherige Irrtümer zu korrigieren. Grundlage der neuen Erkenntnisse ist das erste vollständig sequenzierte Genom der Haarbalgmilbe. Die im Fachjournal "Molecular Biology and Evolution" vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass die Milbe im Lauf ihrer Entwicklung jeglichen genetischen Ballast über Bord geworfen hat. Zurückgeblieben ist ein Wesen, dessen hoher Spezialisierungsgrad bereits an Auflösung grenzt.

Demodex folliculorum ist hauptsächlich in den Gesichtshaarfollikeln, einschließlich der Wimpern, zu Hause, meist in Grüppchen von zwei bis sechs Individuen. Abgesehen von Neugeborenen sind sie annähernd auf jedem Menschen zu finden. Haarbalgmilben werden nicht größer als 0,3 Millimeter lang und ernähren sich vom Talg, der von den Zellen in den Poren produziert wird. Ihre winzigen Beinchen werden nur von drei einzelligen Muskeln bewegt. Außerhalb der Poren können sie auf Dauer nicht überleben.

Vom Parasit zum Symbionten

"Aufgrund dieser engen und dauerhaften Verbindung zum Menschen hat die Milbe enorm an Größe und zahlreiche Gene verloren. Sie überleben mit einem minimalen Repertoire an Proteinen – der geringsten Anzahl, die je bei dieser und verwandten Arten beobachtet wurde", sagt Manzano Marín. "Erstaunlicherweise zeigte unsere Untersuchung, dass die Milben in jungen Jahren viel mehr Zellen als im Erwachsenenstadium haben. Dies widerspricht der bisherigen Annahme, dass parasitische Tiere ihre Zellzahl schon früh in der Entwicklung reduzieren."

Die mikroskopische Aufnahme zeigt das Hinterende einer Haarbalgmilbe, das aus einer Hautpore hervorguckt.
Foto: Alejandra Perotti

Das Team schließt daraus, dass die Milben sich allmählich von einem externen Parasiten zu einem permanenten Symbionten des Menschen entwickeln. Ob und in welchem Ausmaß der Mensch von dieser Koexistenz profitiert, könne man bisher aber noch nicht sagen. Mit den schwindenden Genen wurden die Milben jedenfalls in immer mehr Aspekten vom Menschen abhängig.

Von menschlichem Hormon abhängig

So haben die winzigen Organismen unter anderem ihr UV-Schutzgen und das sogenannte Zeitlos-Gen verloren – jenen Genabschnitt, der dafür verantwortlich ist, dass wir bei Tageslicht aufwachen. Um festzustellen, wann es Abend ist, verlassen sich die Milben auf unser Schlafhormon Melatonin, das während der Abenddämmerung in der Haut ausgeschüttet wird und den Haarbalgmilben als Wecker dient.

"Bisher war häufig davon ausgegangen worden, dass die Milben keinen Anus haben und daher im Laufe ihres Lebens ihren gesamten Kot ansammeln müssen, bevor sie ihn nach ihrem Tod freisetzen und dadurch Hautentzündungen verursachen", sagt Manzano Marín. "Unsere Studie bestätigte jedoch, dass sie doch einen After haben und daher zu Unrecht für viele Hautkrankheiten verantwortlich gemacht werden."

Komplizierte Paarung

Die isolierte hochspezialisierte Lebensweise der Milben in unseren Poren schützt sie vor äußeren Bedrohungen, sie müssen auch nicht um den Befall von Wirten konkurrieren. Der Nachteil ist freilich, dass sie kaum auf Artgenossen mit anderen Genen treffen. Dieser fehlende Kontakt zu potenziellen Fortpflanzungspartnern, die den Nachkommen neue Gene hinzufügen würden, könnte zum Genverlust beigetragen und die Milben in eine evolutionäre Sackgasse geführt haben.

Nicht verloren gegangen sind jene Milbengene, die dafür sorgen, dass der Penis der Männchen nach vorne und oben ragt. Das bedeutet, dass sie sich bei der Paarung unter dem Weibchen positionieren müssen, während sich beide nahe der Hautoberfläche an menschliche Härchen klammern.

"Die Inzucht hat eine Anhäufung schädlicher Mutationen zur Folge, schlechte Genvarianten verbreiten sich schließlich schnell", erklärt Manzano Marín. "Dieser evolutionäre Weg wurde bereits bei in Zellen lebenden Bakterien beobachtet, bei einem Tier jedoch noch nicht klar nachgewiesen." Diese Entwicklung könnte die Milben möglicherweise zum Aussterben bringen. Vielleicht erinnern Sie sich daran, wenn Sie das nächste Mal einem nahestehenden Menschen ins Gesicht blicken. (tberg, red, 22.6.2022)