Eine kurzfristige Nutzung von Kohlekraftwerken sieht der IEA-Chef Birol unproblematisch. Der rasche Ausbau von Investitionen in erneuerbare Energie sei aber unumgänglich.

Foto: EPA/RADEK PIETRUSZKA

In einem "Financial Times"-Interview mahnt der Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), Fatih Birol, Europa, sich unverzüglich auf eine mögliche vollständige Einstellung der russischen Gasexporte im kommenden Winter vorzubereiten. Bisher ergriffene Maßnahmen würden nicht ausreichen, Kernkraftwerke sollten in Betrieb gehalten werden, so Birol. Die Kürzungen der russischen Gaslieferungen an europäische Länder sei ein Vorläufer weiterer drastischer Kürzungen, um Europa unter Druck zu setzen.

"Ich glaube, dass die Kürzungen darauf abzielen zu vermeiden, dass Europa Gasspeicher füllt, und darauf, die Abhängigkeit von Russland in den Wintermonaten zu erhöhen", sagt Birol. Die von einigen europäischen Ländern ergriffenen Notfallmaßnahmen zur Verringerung der Gasnachfrage, etwa die Inbetriebnahme alter Kohlekraftwerke, seien trotz der Bedenken über steigende CO2-Emissionen angesichts des Ausmaßes der Energiekrise gerechtfertigt.

Kurzfristige Nutzung von Kohlekraftwerken

Die Inbetriebnahme von Kohlekraftwerken sei vorübergehend und diene vor allem dazu, die Gasversorgung im Winter zu erhalten. Zusätzliche CO2-Emissionen aus der Verbrennung von Kohle können laut Birol durch eine Beschleunigung europäischer Pläne zur Verringerung der Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen und zum Aufbau erneuerbarer Energiequellen ausgeglichen werden.

Nach Angaben des Beratungsunternehmens ICIS hat Europa seine Abhängigkeit von russischem Gas seit Beginn des Ukraine-Kriegs von rund 40 auf etwa 20 Prozent der Gesamtlieferungen reduziert. Die meisten Möglichkeiten zur Diversifizierung der Lieferungen seien jedoch bereits ausgeschöpft. Deutschland ist wegen seiner Entscheidung, die letzten Kernkraftwerke während der Energiekrise weiter stillzulegen, immer wieder kritisiert worden.

APA/bes | DER STANDARD

Erneuerbare Energiequellen maßgeblich

Birol äußerte sich im Vorfeld der Veröffentlichung eines neuen IEA-Investitionsberichts am Mittwoch, in dem kritisiert wird, dass Regierungen erneuerbare Energien nicht ausreichend fördern und die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen zu wenig eindämmen. Wenn Netto-null-Ziele bis 2050 erreicht werden sollen, dürfe nicht in neue Öl- und Gasfelder investiert werden. Zudem sei man ansonsten weiterhin gefährlichen Schwankungen von Öl- und Gaspreisen ausgeliefert.

Zwar gebe es positive Anzeichen für wachsende Investitionen in erneuerbare Energie, doch sei das keineswegs ein globaler Trend, sagte Birol. Investitionen in erneuerbare Energien seien in den Entwicklungsländern seit 2015 nicht mehr gestiegen. "Die relative Schwäche der Investitionen in saubere Energien in weiten Teilen der Entwicklungsländer ist einer der beunruhigendsten Trends", heißt es in dem IEA-Bericht. (red, 22.6.2022)