Es ist ein düsteres Szenario, das der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) derzeit angesichts des Ukraine-Kriegs malt. "Es besteht die Gefahr einer sehr ernst zu nehmenden Wirtschaftskrise aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise, aufgrund der Lieferkettenprobleme, auch aufgrund der Inflation", sagt er.

Zwar habe der russische Präsident Wladimir Putin die Deutschen, wie überhaupt den Westen, "nicht in der Hand". Aber, so Lindner: "Meine Sorge ist, dass wir in einigen Wochen und Monaten eine sehr besorgniserregende Situation haben könnten." Dann nämlich, wenn Putin das Gas abdreht.

Deutschland ist es zwar seit Kriegsbeginn im Februar gelungen, die Gasimporte aus Russland – gemessen an den gesamten Einfuhren – von 55 auf 35 Prozent zu drosseln. Doch ohne die Energie aus Russland wird auch Deutschland noch länger nicht auskommen.

Sollen Kernkraftwerke nun länger laufen? Darüber wird heiß debattiert.
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"In dieser Situation dürfen wir nicht wählerisch sein. Es geht ja um drei bis vier, vielleicht fünf Jahre der Knappheit, und dafür müssen wir eine Antwort finden", sagt Lindner. Daher sei es notwendig, jetzt über alle Möglichkeiten zu sprechen, also auch über verlängerte Laufzeiten jener Kernkraftwerke, die in Deutschland noch am Netz sind.

Drei sind es: das AKW Isar 2 des Energiekonzerns Eon in Bayern, Neckarwestheim 2 von EnBW (Energie Baden-Württemberg) in Baden-Württemberg und das AKW Emsland in Niedersachsen, das von RWE betrieben wird. Sie sollen zum Jahresende 2022 als letzte vom Netz gehen.

Keine Verlängerung der Laufzeit geplant

Das deutsche Umweltministerium und das deutsche Wirtschaftsministerium gaben am Mittwoch jedoch bekannt, dass eine Prüfung der Verlängerung der AKW-Laufzeiten derzeit nicht im Raum stehe. Der Wirtschaftsminister verweist darauf, dass ein Weiterbetrieb der Kraftwerke über das Ausstiegsdatum hinaus aus Sicherheitsgründen nicht verantwortbar wäre.

Das Ausstiegsdatum ist schon vor Jahren, noch unter Kanzlerin Angela Merkel, beschlossen worden. Nach dem Super-GAU von Fukushima im Jahr 2011 wollte sie doch nicht mehr so lange an der Atomkraft in Deutschland festhalten. Auch im Koalitionsvertrag der Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP heißt es ganz klar: "Am deutschen Atomausstieg halten wir fest."

Machbar

Nach dem Einmarsch der Russen in der Ukraine war rasch die Debatte aufgepoppt, ob man nicht aus dem geplanten Ausstieg wieder aussteigen sollte. Doch jetzt ist dies – eben mit Finanzminister Lindner – erstmals von einem hochrangigen Regierungsmitglied zu hören.

Unterstützt wird er von Oppositionschef Friedrich Merz. "Wir sollten keine Option liegen lassen", sagt der CDU-Partei- und Fraktionschef und verweist auf Frankreich: "Wenn in Frankreich 50 Atomkraftwerke in Betrieb sind, können wir auch in Deutschland drei laufen lassen. Wenn es von der Politik gewollt wäre, wäre es auch machbar."

"Ausstieg völliger Unsinn"

Es würden auch alle Experten erklären, dass es machbar wäre. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder sagt, die deutschen Kernkraftwerke nicht weiterlaufen zu lassen sei "völliger Unsinn". Und: "Es gibt keine Argumente, außer rein ideologischen Basta-Argumenten, die Kernkraft nicht zu verlängern."

Dafür spricht sich auch der Branchenverband Kernenergie aus, drängt aber zur Eile. "Die Kraftwerke befinden sich im Abschaltungsprozess. Je länger man wartet, desto schwieriger wird es, sie wieder hochzufahren", sagte ein Sprecher dem Münchner Merkur. Denn eigentlich sind die Kernkraftwerke darauf programmiert, dass sie zum Jahresende stillliegen.

Der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) will ebenso wie Oppositionschef Friedrich Merz (CDU), dass AKWs länger laufen.
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Darauf verweisen auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) sowie Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne). Beide betonen, dass man ein AKW nicht einfach ein- und ausschalten könne und außerdem die nötigen Brennelemente für einen Weiterbetrieb nicht mehr vorhanden seien.

Suche auf dem Weltmarkt

"Ich bin kein Händler von Brennstäben, aber auf dem Weltmarkt gibt es natürlich Brennstäbe", erwidert daraufhin der FDP-Politiker Christian Dürr. Söder erklärt, dass sich ja auch andere Staaten wie etwas Frankreich auf dem Weltmarkt eindecken würden.

Ralf Güldner vom Verband Kernenergie meint, dass die deutschen Atomkraftwerke über den Dezember hinaus, nämlich zumindest bis zum März 2023, am Netz bleiben könnten, denn Brennelemente könnten "gestreckt" werden.

Sicherheitsbedenken zu groß

Der Chef des Energiekonzerns RWE, Markus Krebber, hält die Diskussion über eine Laufzeitverlängerung für kontraproduktiv. Sie komme "zu spät", sagt er dem TV-Sender Welt. Etwaige Brennstäbe müssten "genau zum Reaktortyp passen". Zudem sei ungeklärt, "wer welche Risiken übernimmt".

Der Eon-Konzern warb in einem Brief an die Beschäftigten der Atomtochter Preussenelektra um Verständnis, dass der Konzern seine Atommeiler nicht länger betreibt. "Die Bundesregierung hat den Beitrag, den die verbliebenen Kernkraftwerke zur Lösung der aktuellen Energie-Krise leisten können, geprüft und ist nach einer Abwägung zu der Entscheidung gelangt, dass Kernenergie nicht Teil der Lösung sein soll", zitierte die "Rheinische Post" aus dem Brief von Eon-Chef Leonhard Birnbaum. "Diese Entscheidung müssen wir respektieren."

Einigung im EU-Parlament

Inzwischen hat sich das Europaparlament nach dem Abstimmungsdebakel am Mittwoch doch auf eine Position zu umstrittenen Punkten des Klimapakets verständigt. Die Einigung sieht vor, dass die kostenlose Vergabe von Zertifikaten für CO2-Emissionen zwischen 2027 und 2032 komplett auslaufen soll.

Auch soll der Emissionshandel auf Gebäude und Verkehr ausgeweitet werden. Beim Emissionshandel (ETS) müssen bestimmte Industrien für den Ausstoß klimaschädlicher Gase wie CO2 zahlen. (Birgit Baumann aus Berlin, 23.6.2022)