Seit Tagen gehen russische Gaslieferungen nach Europa zurück. Es sei verständlich, kurzfristig auf bestehende fossile Kraftwerke zurückzugreifen, meint Francesco La Camera, Chef der Internationalen Organisation für erneuerbare Energien. Langfristig müsse das europäische Energiesystem auf den Kopf gestellt werden.

STANDARD: Russische Gaslieferungen nach Europa wurden in den letzten Tagen eingeschränkt. Was bedeutet das für den Kontinent?

La Camera: Kurzfristig müssen wir Alternativen für das Gas finden. In Deutschland denkt man wieder über die Verwendung von Kohle nach. Das ist verständlich, weil auch die Energiesicherheit wichtig ist. Das kann kurzfristig natürlich auch zum Problem steigender CO₂-Emissionen führen. Zugleich haben wir aber auch gesehen, dass die Ukraine-Krise Regierungen dazu drängt, den Ausbau von Erneuerbaren zu beschleunigen.

STANDARD: Auch in Österreich soll ein Kohlekraftwerk reaktiviert werden. Sie halten das also für einen notwendigen Schritt?

La Camera: Kurzfristig, ja. Es kommt aber natürlich immer auf die jeweilige Situation im Land an und darauf, ob vorhandene Anlagen genützt werden können – oder nicht. Es dürfen keine neuen Minen oder Kohlekraftwerke gebaut werden. Neue Investitionen in Infrastruktur für Kohle, Öl und Gas würden in die falsche Richtung gehen.

Atomenergie ist als Übergangstechnnologie nicht geeignet, sagt La Camera.
Foto: apa/dpaStratenschulte

STANDARD: Auch über den Einsatz von Atomenergie wird mehr diskutiert. Was halten Sie davon?

La Camera: Die Debatte ist für mich eines der seltsamen Dinge im Leben: Wie kann man meinen, dass Kernkraft eine geeignete Übergangstechnologie sein könnte? Es dauert mehr als ein Jahrzehnt, um eine neue Anlage zu bauen. Kernspaltung ist keine Lösung, insbesondere dann nicht, wenn sie als Übergangslösung präsentiert wird.

STANDARD: Könnten Russlands Drohgebärden möglicherweise der letzte Schub sein, der für die Energiewende in Europa notwendig ist?

La Camera: Erneuerbare stehen derzeit im Mittelpunkt der Politik. Mittlerweile akzeptieren alle, dass Erneuerbare die Lösung für den Kampf gegen den Klimawandel sind. Alle sind sich einig, dass Investitionen in Erneuerbare mehr Arbeitsplätze schaffen können. Alle sind sich einig, dass wir durch Investitionen in Erneuerbare einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten können. Jetzt ist ein weiteres Element dazugekommen: die Energiesicherheit. Erneuerbare sind jetzt die Lösung, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren. Das wird Regierungen zum Handeln bewegen.

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STANDARD: In vielen Ländern Europas kämpfen Menschen mit hohen Energiepreisen. Wie lautet Ihre Prognose, wie es weitergeht?

La Camera: Dies hängt davon ab, wie sich die Krise entwickeln wird. Aus meiner Sicht wird es langfristig nicht zu einer neuen Förderung von Gas kommen, sondern zu einem Schub für erneuerbare Energien. Wir haben erkannt, dass wir ein zuverlässigeres und stabiles Energiesystem brauchen, ohne dieses ständige Auf und Ab, weil wir von wenigen großen Playern abhängig sind – durch die das ganze System zusammenbrechen kann. Deshalb halte ich auch das Argument gegen Erneuerbare für lächerlich – wenn Leute sagen, wir haben nicht immer Wind oder Sonne. Wir haben jetzt gelernt, dass wir nicht immer Gas haben.

In den vergangenen Tagen gingen die russischen Gaslieferungen Russland nach Europa zurück.
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STANDARD: Um die Gasknappheit zu überwinden, soll nun auch die Bevölkerung zum Energiesparen aufgerufen werden. Was halten Sie davon?

La Camera: Ich denke, das ist und bleibt eine sehr wichtige Maßnahme. Das Stichwort dabei lautet Energieeffizienz. Je effizienter wir Energie einsetzen, desto weniger wird die Nachfrage steigen.

STANDARD: Wo stehen wir global eigentlich in der Energiewende?

La Camera: Wir haben uns auf das Pariser Abkommen geeinigt, das auf wissenschaftlichen Fakten basiert. Das heißt, dass wir den Temperaturanstieg um 1,5 Grad Celsius oder zwei Grad Celsius begrenzen müssen. Mit anderen Worten: Bis im Jahr 2050 müssen wir klimaneutral sein. Nur sind wir nicht im Einklang mit diesem Ziel. Wir sind zu langsam und zu wenig ambitioniert. Wenn wir unsere Art, Energie zu erzeugen und zu verbrauchen, nicht dramatisch ändern, versäumen wir schon bald das 1,5 Ziel oder sogar das Zwei-Grad-Ziel.

Den vielen Klimaversprechen sind bisher zu wenig Taten gefolgt, meint Francesco La Camera.
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STANDARD: Was muss getan werden?

La Camera: Die Fahrtrichtung ist klar: Wir müssen Investitionen in erneuerbare Energien verdreifachen. Es gibt so viele Länder, die sich zur Nettonull bis 2050 verpflichtet haben. Diese Versprechen müssen jetzt aber auch in die Tat umgesetzt werden. Dabei muss der Übergang so gestaltet werden, dass alle davon profitieren. Wir werden in bestimmten Sektoren Arbeitsplätze verlieren, während woanders neue entstehen. Wir schätzen, dass wir durch die Energiewende bis 2030 über 85 Millionen Arbeitsplätze schaffen werden, zugleich gehen rund 60 Millionen Jobs verloren.

STANDARD: Trotz aller Versprechungen schreitet die Energiewende in Europa nicht so schnell voran, wie sie müsste. Halten Sie das Ziel der Nettonull bis 2050 noch für erreichbar?

La Camera: Absolut, das Ziel ist noch machbar. Aber wir müssen unseren Kurs dramatisch ändern. Die Ukraine-Krise könnte der letzte Anstoß dafür sein. Politisch gibt es jetzt wieder ein klares Verständnis, dass das alte zentralisierte System kaputt ist und dass wir die Energiewende beschleunigen müssen. (Nora Laufer, 23.6.2022)