Begonnen hat es mit einer Frage, die mich schon lange umtreibt: Wieso isst man in manchen Gegenden der Welt einfach besser als in anderen? Warum hat sich in, sagen wir, Kenia, nie eine nennenswerte Esskultur herausgebildet, während man in Thailand hervorragend speist? Wieso ist das Essen in Japan sensationell, nicht aber in Nordrhein-Westfalen? (1) Noch verwunderlicher wird es, wenn diese Gegenden ganz eng beieinanderliegen. Wieso zum Beispiel ist das Essen in Italien besser als in Österreich? (2)

Klar, es gibt auch in Österreich ganz köstliches Essen, aber man muss wissen, wo man danach suchen muss. Wenn Sie wahllos in ein Lokal gehen, essen Sie wahrscheinlich nicht so toll. In Italien verhält es sich umgekehrt: Manchmal haben Sie Pech, aber in erstaunlich vielen Fällen werden sie anständig speisen.

Besonders auffällig ist das Gefälle in Tirol: Der Norden, der österreichische Teil, ist eine kulinarische Wüste, aber einmal über den Brenner und die Berge hinunter tut sich eine Art Schlaraffenland auf. (Das ist erstaunlich und ein Grund zur Hoffnung: Veränderung, scheint es, ist innerhalb weniger Jahrzehnte möglich.)

Foto: Tobias Müller

Auch die italienische Küche hat viele Schwächen. So viele, dass ich sie für gleichzeitig eine der am meisten überschätzten und der besten Küchen halte: überschätzt im Ausland, wo sie selten gut ist, und eine der besten dort, wo sie herkommt. Sie krankt an sklavischer Treue zu (oft eingebildeten) Traditionen, Unfähigkeit oder am Unwillen zur Innovation, an totalem Desinteresse an allem, was nicht italienisch ist (3), und, daraus resultierend, an der ständigen Gefahr, in die Fadesse zu kippen.

Wenn italienisches Essen nicht gut ist, dann ist es Kleinkinderessen: weich, süß, gefällig, banal, fad. Das ist, glaube ich, ein wesentlicher Grund für seinen weltweiten Erfolg: Es kann nach fast gar nichts schmecken, und damit auch nicht wirklich schlecht, genauso wie das Billigsushi, das in den vergangenen Jahren die Welt erobert hat. Wenn es aber gut ist, kann es fantastisch sein. In Italien zu essen (oder essen zu gehen) gehört meiner Meinung nach zu den großen Freuden des Lebens.

Es gibt einige Dinge, die schwer nachzumachen sind: natürliche wie das Klima, das freundlicher ist als in Mitteleuropa, historische wie die Tatsache, dass es hier schon sehr lange Menschen gibt, die genug Geld für gutes Essen hatten, oder kulturelle wie die Besessenheit und Begeisterung (4), die Italiener für Essen (ihres, kein anderes) empfinden. Richtig gutes Essen hat außerdem immer nur begrenzt mit Essen an sich, aber viel mit all dem Drumherum zu tun – mit der Stimmung, der Freude, mit Menschen zu speisen, die sichtlich viel Freude am Essen haben, oder schlicht mit atemberaubenden Orten, von denen es hier so viele gibt (habe ich hier schon einmal geschrieben).

Andererseits gibt es doch ein paar Dinge, an denen man zumindest versuchen kann, sich ein Beispiel zu nehmen. Vieles davon gibt es auch in anderen Esskulturen, manches ist recht speziell, alles gefällt mir jedenfalls sehr, sehr gut.

Italiener trauen sich, wenig zu tun

Ich glaube, ein wesentlicher Grund für das oft nicht so tolle Essen in Österreich sind übertriebene Ambitionen. Sobald ein Koch einigermaßen kochen kann, versucht er sich an Dingen, die so kompliziert, aufwendig und/oder unsinnig sind, dass nur ein Franzose mit Küchenbrigade das gut hinbekommen kann. Der zwar gute, aber halt nicht großartige Koch scheitert.

Italiener machen da nicht mit. Sie wissen, dass weniger oft mehr ist, und trauen sich, ihre Zutaten nicht zu überfrachten. Ein bisserl Olivenöl, ein wenig Knoblauch, ein paar Sardellen, ein Schuss Zitronensaft und sehr, sehr oft offenes Feuer statt eines E-Herds – mehr braucht es nicht, wenn die Produktqualität passt.

Foto: Tobias Müller

Die Idee ist dieselbe wie hinter gutem Sashimi oder Sushi: Die Aufgabe des Kochs ist es, seine Zutaten in ein möglichst gutes Licht zu stellen, nicht sein eigenes Können. In Mitteleuropa bleibt dieses gekonnte Nichtstun allzu oft nur dem Käsegang vorbehalten, und selbst der muss sich allerlei Marmeladen gefallen lassen.

Der Liebe zur Hülsenfrucht

Ich bin sicher, dass auch in Italien der Fleischkonsum maßlos zugenommen hat in den vergangenen Jahrzehnten und dass der Durchschnittsitaliener viel zu viel Fleisch isst. Trotzdem hat sich hier eine Liebe zur Hülsenfrucht erhalten, die nördlich der Alpen verschwunden ist. Die gemeine Bohne, die banale Kichererbse, die Fisole und Schwertbohne, sie werden in großen Mengen genossen und mit Liebe und Leidenschaft verkocht – sei es als Eintopf zusammen mit Meeresfrüchten, als traditionelle Weihnachtssuppe oder als Bohnenpüree mit Bittergemüse und Chiliöl. Das macht den italienischen Speisezettel um ein paar wesentliche Zutaten (abwechslungs)reicher.

Die (bittere) Gemüsevielfalt

Mönchsbart, Puntarelle, Favabohnen, Nespole, Maulbeeren – einen guten Teil der besten und in Italien allgegenwärtigen Gemüsesorten gibt es bei uns höchstens im Fachgeschäft. (Und wenn es italienische Artischocken über die Alpen schaffen, sind sie oft Ausschussware). Dazu kommt noch saisonal und wild gesammeltes Zeug (wilder Spargel! Löwenzahn! Pilze!), das ebenfalls völlig selbstverständlich in ganz normalen Geschäften angeboten wird.

Erfreulich viele dieser Bonusgemüse sind außerdem zart bis intensiv bitter. Italiener lieben bittere Geschmäcker und zelebrieren sie. Das macht ihre Küche nicht nur um viele Zutaten, sondern gleich um einen ganzen Geschmack reicher, der bei uns nur selten serviert wird – und einer von fünf ist ein beträchtlicher Gewinn. Bei Tieren sieht es mit der Vielfalt ähnlich aus: Kaninchen, Ziegenkitz und Meeresschnecken sind auch beim Fleischer ums Eck erhältlich.

Der Respekt vor altem Bauernessen

In Italien hat sich der Respekt vor und eine Liebe zu altem Bauernessen erhalten, der nördlich der Alpen sehr selten geworden ist. Italienische Köchinnen und Köche, vor allem auf dem Land, schmoren mit Leidenschaft Bohnenpüree mit Zichorien, rösten Polenta und Kastanien, köcheln stundenlang Gemüsesuppen oder rollen diverse Pastaformen von Hand.

Im Unterschied zur schlechten alten Zeit tun sie das nun aber nicht, weil sie müssen, sondern weil sie wollen. Mit mehr Muße, Hingabe, Fokus und qualitativ deutlich besseren Zutaten. Weil keiner mehr verhungern muss, können sie sich statt auf die Menge und die Kosten auf den guten Geschmack konzentrieren.

Foto: Tobias Müller

Die Speisen sind zudem einfach genug, um über Jahre perfektioniert werden zu können, und aus Zutaten gemacht, die günstig genug sind, um auch im Lokal in höchster Qualität eingekauft werden zu können. Das Ergebnis ist nichts für Fine Dining und selten ein lebensveränderndes Geschmackserlebnis, aber oft liebevoll zubereitetes Wohlfühlessen – und damit mehr, als sich über das allermeiste österreichische Gasthausessen sagen lässt.

Die Ein-Teller-eine-Zutat-Kultur

Wer in Italien eine Tagliata, frittierte Sardinen, gesottenen Oktopus oder geschmorten Chicorée bestellt, bekommt genau das: ein gebratenes Stück Fleisch, einen Haufen kleiner, knuspriger Fische, einen saftigen Oktopus, einen Teller mit bitterem Grünzeug. Edles wie Mozzarella wird sowieso nur pur und ohne Beigabe serviert. Ich finde das nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern auch kulinarisch großartig und unserer Beilagenkultur klar überlegen.

Foto: Tobias Müller

Es erlöst mich von dem Problem, sagen wir, Creamed Corn essen zu wollen, aber nicht die dazu angebotene gebratene Hühnerbrust, oder ein Steak zu wollen, aber ohne Reis und ohne Pommes; es erlöst die Küche von der Qual, sich nicht nur gute Gerichte, sondern auch noch möglichst massentaugliche Kombinationen ausdenken zu müssen; und, vielleicht am allerwichtigsten, es erlaubt es, der entsprechenden Zutat die nötige Aufmerksamkeit zu widmen, sie auf den Teller zu legen wie auf ein Podest oder eine Bühne.

Seht her, was ich für ein prächtiges Steak gegrillt habe, schaut, wie schön diese frischen Steinpilze sind! Jede Zutat bekommt ein Solo, statt ins Orchester gesteckt zu werden. Außerdem wird die Speisekarte so tendenziell kürzer, was auch fast immer von Vorteil ist.

Der "secondo" ist nicht die Hauptspeise

Der Fleisch- oder Fischgang ist fast immer vergleichsweise klein, vielleicht die Krone und der Star des Essens, aber nicht die Substanz. Das ist deutlich nachhaltiger als die tellergroße Schnitzelkultur und erlaubt eine viel bessere Fleisch- oder Fischqualität. Und es ermöglicht es den Essern, sich auf viel spannendere Dinge als Fleisch zu konzentrieren: die tausenden verschiedenen Obst- und Gemüsearten, die hier gedeihen.

Die Antipastikultur

Ich mag die mitteleuropäische Unart nicht, nur eine Speise zu servieren, aber von dieser dafür unverhältnismäßig viel (5). Die großen Esskulturen der Welt schränken sich nicht so leidenschaftlich selbst ein: Inder, und wenn sie noch so arm sind, haben stets drei, vier verschiedene Gemüse auf ihrem Reis, Chinesen essen aus mindestens acht verschiedenen Schüsseln, und auch ein italienisches Essen besteht so gut wie immer aus einer Vielzahl an Köstlichkeiten.

Foto: Tobias Müller

Die Antipasti sind der vielleicht wichtigste Gang eines italienischen Essens: drei, vier verschiedene Würste, zwei Käse (frisch und gereift), sauer eingelegtes, gegrilltes oder frittiertes Gemüse (mehrere Arten, saisonal abgestimmt), Frittata, kleine Portionen Geschmortes oder Gebackenes, und wenn’s ein bisserl mehr sein darf, kommen noch gesäuerte Sardellen oder rohe Muscheln dazu.

Nach einer solchen Vielfalt macht es dann wenig aus, wenn der Haupt- und Sättigungsgang nur aus einer Art Pasta oder einer dicken Suppe besteht. Wem das zu fad ist, der kann noch ein Secondo (mit oder ohne Beilagen) hinterherschieben, bevor es zu den frischen Früchten weitergeht.

Der Supermarkt hat sich hier nie so recht durchgesetzt

Klar, auch in Neapel gibt es ein paar Supermärkte, aber ihre Dichte ist gering, und sie werden von den meisten Menschen als notwendiges, weil manchmal praktisches Übel gesehen. Der Alltagseinkauf, vor allem der guten Zutaten wie Fleisch und Fisch, werden selbstverständlich in einem der abertausenden kleinen Geschäfte erledigt – bei den Fleischern, den Fischverkäufern, den Bäckern und Gemüsemännern und -frauen. Auch in den Dörfern ist das nicht anders: Die haben keine Kreisverkehre mit Einkaufszentren an der Einfahrt, sondern Fleischer, Bäcker und Fischverkäufer.

Wieso das hier geht, bei uns aber nicht? Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, ob dieses Fehlen der Supermärkte und das Überleben der kleinen Händler Ursache oder Wirkung des guten Essens ist. Es macht es aber viel einfacher, sich im Alltag mit passablen Zutaten zu versorgen – und trägt damit definitiv zur Essensqualität bei.

Italiener sind stolz auf ihr Essen

Ein letzter Punkt, den man, fürchte ich, leider nicht lernen kann, den ich aber für essenziell halte. Die oben genannten Bohnen, Kichererbsen und Linsen werden mit Leidenschaft, Liebe und Stolz angebaut. Viele Dörfer kennen ihre eigenen Sorten, speziellen Gerichte und besonderen Zubereitungsarten. Und das ist natürlich nicht nur bei Bohnen, Linsen und Kichererbsen so, sondern auch bei Melanzani und Artischocken, Würsten und Eintöpfen, Brot und Pasta – kurz, bei so gut wie allem, was man essen kann.

Landwirtschaftliche Produkte werden hier ernst genommen, und Leute, die gutes Essen machen oder verkaufen – gute Fleischer, Bäcker, Gemüsebauern –, sind angesehen, bewundert und stolz darauf, eine vermeintlich einfache, oft repetitive Arbeit möglichst gut zu verrichten. Ich halte diesen Stolz für eine der allerwichtigsten Zutaten für gutes Essen.

Sehr schön sieht man das auf den Sagras. Sagras sind Dorffeste, die einer Spezialität der Gegend gewidmet sind, und fast jedes italienische Dorf veranstaltet einmal im Jahr eine solche. Es gibt Steinpilz-Sagras, Bohnen-Sagras, Gurken-Sagras, und das Dorf Monte di Procida feiert einmal im Jahr die Cheesesteak-Sagra, weil der Bürgermeister lange in Chicago gelebt und diese Delikatesse mit zurück in seine Heimat gebracht hat.

Auf Sagras wird Essen für hunderte, mitunter tausende Personen gekocht – und zwar in Handarbeit. Menschen rühren hier Polenta mit langen Holzlöffeln über offenem Feuer, rösten Kastanien in Trommeln, die per Hand gedreht werden müssen, rollen Pasta mit Nudelwalkern oder füllen Würste mit Metallspritzen händisch ab. Das vielleicht berühmteste Beispiel für diese Obsession hat mit den Sagras gar nichts zu tun. Es ist der Holzofen, in der die neapolitanische Pizza gebacken werden muss.

Ich halte das für einen wesentlichen Grund, dass das Essen hier so gut ist. Nicht, weil Nudelwalker-Pasta oder handgedrehte Kastanien zwangsweise besser sind als solche aus Pastamaschinen und automatischen Rösttrommeln. Ich glaube, es ist ein wenig so, wie biodynamisch arbeitende Bauern oft bessere Produkte erzeugen. Ich halte in beiden Fällen die Methoden für höchst fragwürdig – aber wer gewillt ist, sich so viel Arbeit anzutun, der liebt sein Essen innig. Und das ist eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass es gut wird. (Tobias Müller, 26.6.2022)

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(1)

Ich halte weder Klima, noch Wohlstand noch Kultur/Religion für ausreichende Erklärungen. Nicht einmal alle zusammen überzeugen mich. Der japanische Norden ist Nordrhein-Westfalen klimatisch durchaus ähnlich. In Thailand ist es heiß, in der Normandie ziemlich kühl, und Süditalien ist viel ärmer als Norddeutschland. Es ist zwar auffallend, dass man in protestantischen Ländern traditionell eher schlecht isst, aber auch der Katholizismus ist kein Garant für Esskultur wie etwa Österreich oder Tschechien eindrucksvoll beweisen. Ein anderes Mal vielleicht mehr dazu.

(2)

Viele der folgenden Beobachtungen treffen vor allem auf Restaurants, also die öffentliche Esskultur zu. In manchen Gegenden macht das einen riesigen Unterschied: Auf dem Balkan zum Beispiel gibt es kaum eine Restaurantkultur und meist schreckliches Essen im Lokal, zu Hause speisen die Menschen aber mitunter hervorragend. Im Fall von Österreich und Italien, glaube ich, ist der Qualitätsunterschied zwischen der Küche im Lokal und zu Hause nicht so ausgeprägt und/oder zumindest in beiden Ländern ähnlich groß.

(3)

Es gibt eine Ausnahme: Selbst in der italienischen Provinz gibt es oft eine Sushibar, die schreckliches Sushi serviert. Warum Italiener ausgerechnet dieses grausame Zerrbild japanischer Küche als einzige andere Küche neben der ihren akzeptieren, ist mir schleierhaft.

(4)

Wenn Sie ein x-beliebiges Gespräch zwischen Italienern auf der Straße oder am Strand belauschen, stehen die Chancen sehr gut, dass es sich ums Essen dreht. An einem einzigen heißen Julinachmittag im Cilento habe ich erst einer Gruppe Frauen zugehört, die bis zur Hüfte im Meer stehend über Pizza diskutierten, dann zwei alten Männern, die sich im Schatten eines Buschs am Strand über Schwarzkohl und seine perfekte Zubereitung unterhielten ("noci, aglio, olio, e basta!") und dann einer jungen Familie, die angeregt über ihre Mittags-Bruschetti (die Sardellen!) schwärmten.

(5)

Man könnte einwenden, dass der klassische mitteleuropäische Teller drei Gänge in einem ist: Fleisch/Fisch, Gemüse, und Sättigungsbeilage. Ich lasse das nicht gelten, weil erstens gibt es genug Speisen, die nicht drei in einem, sondern schlicht eines sind (Schinkenfleckerl, Krautfleckerl ...), zweitens sind drei Komponenten immer noch ärmlich im internationalen Vergleich, und drittens wird dabei fast immer die Sättigungsbeilage mitgezählt (Knödel, Spätzle, Nockerln ...), die ich oben bei den Indern, Chinesen (Reis) und Italienern (Brot) gar nicht erwähnt habe. In einer gewissen Weise ist das sogar das Gegenteil von Vielfalt und Abwechslung: M. F. K. Fischer nennt das in ihrem Buch "How to Cook a Wolf" die Unart der ausgewogenen Mahlzeit – also die fixe Idee, dass jedes Essen aus Protein, Kohlenhydraten und Gemüse bestehen muss, am besten in ausgewogenen Bestandteilen. Sie bezeichnet das als den Tod des guten Essens. Die Italiener würden ihr voll und ganz recht geben. Die – seltener werdende – Vorspeisensuppe hilft da auch nicht mehr weiter.