Vor dem EU-Sitz in Brüssel demonstrierten zahlreiche Ukrainer und Ukrainerinnen für den Beitritt ihres Landes.

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Als sich am Donnerstag kurz nach 13 Uhr fast drei Dutzend Politikerinnen und Politiker aus den 27 EU-Staaten und den sechs Westbalkanländern Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo in feinem Zwirn auf das Fotopodest im Brüsseler Ratsgebäude drängten, schien der Ärger der vergangenen Tage vergessen – allerdings nur für einen kurzen Moment. Andächtig blickten dort neben ihrem Amtskollegen aus Bulgarien auch die Regierungschefs Nordmazedoniens und Albaniens in die Kameras.

Nicht nur die Ernennung der kriegsversehrten Ukraine und Moldaus zu offiziellen EU-Beitrittskandidaten stand in Brüssel zur Debatte, sondern auch ein schon seit längerem schwelender Konflikt: Bulgarien blockiert bisher die Aufnahme des kleinen Nordmazedonien – und indirekt auch jene Albaniens, weil die EU mit beiden Ländern zugleich verhandeln will. Und auch die Frage, ob Bosnien-Herzegowina nach dem Wunsch Sloweniens Beitrittskandidat werden soll, bewegte die Gemüter.

Noch am Mittwochabend schien eine Lösung greifbar nah, was den bulgarisch-nordmazedonischen Streit betrifft. In Sofia nämlich wurde das Kabinett von Bulgariens bisherigem – und vielleicht auch nächstem – Ministerpräsidenten Kirill Petkow mit einer knappen Parlamentsmehrheit durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Die heterogene Regierung war nur ein halbes Jahr im Amt gewesen und wegen Streitereien über das Budget und Subventionen an Bauunternehmer zerbröselt.

Veto bleibt vorerst

Die neuen Verhältnisse, vor allem aber ein Sinneswandel in der von 2014 bis 2021 regierenden konservativen Gerb-Partei von Ex-Premier Bojko Borissow, könnten nun alles ändern, was den Aufnahmeprozess mit Nordmazedonien betrifft. Der noch amtierende Premier Petkow machte jedoch schon bei seiner Ankunft in Brüssel klar, dass er an dem Veto seines Landes gegen die Aufnahme von Gesprächen mit Skopje festhalten wolle.

Ihm "persönlich" gefalle der Kompromissvorschlag der französischen Ratspräsidentschaft zwar, doch müsse nicht er, sondern das bulgarische Parlament darüber befinden. Paris hatte vorgeschlagen, den Aufnahmeprozess "unter Auflagen" beginnen zu lassen, etwa jener, dass Bulgaren als Volksgruppe in die nordmazedonische Verfassung aufgenommen werden.

So oder so zeigte sich Albaniens Ministerpräsident erbost. "Es ist eine Schande, dass ein Nato-Land zwei andere Nato-Länder als Geisel hält", sagte Edi Rama in Brüssel.

Beim eigentlichen EU-Gipfel, der am Donnerstagnachmittag startete und bis Freitagmittag dauern soll, wurden die Ukraine und Moldau wohl zu Beitrittskandidaten ernannt. Berichten zufolge hatte sich die erwartete Entscheidung verzögert – wegen einer Debatte darüber, ob Bosnien-Herzegowina nicht auch Beitrittskandidat werden sollte. Sloweniens Ministerpräsident Robert Golob hat zuvor angekündigt, den EU-Kandidatenstatus auch für Bosnien-Herzegowina einzufordern.

Gleiches gab bereits Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) zu Protokoll, der "gleiche Regeln für alle" forderte: "Das ist ein Gebot der Fairness und eine Frage der Glaubwürdigkeit." Sein deutscher Amtskollege Olaf Scholz sprach sich ebenfalls für Fortschritte im Beitrittsprozess der sechs Westbalkanstaaten aus.

Kurz vor dem Gipfel hatte auch das Europaparlament die Anerkennung der Ukraine und Moldaus als EU-Beitrittskandidaten gefordert. Die große Mehrheit der Abgeordneten rief die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer in einer nicht bindenden Entschließung auf, bei ihrem Gipfel in Brüssel "der Ukraine und der Republik Moldau unverzüglich den Status eines Bewerberlandes zu gewähren".

Proteste in Georgien

Auch Georgien solle dieser Status zugestanden werden, sobald die Regierung bestimmte von der EU-Kommission genannte Kriterien erfülle. Das bestätigte EU-Ratspräsident Charles Michel auf Twitter. In der Hauptstadt Tiflis haben Anfang der Woche etwa 60.000 Menschen für eine baldige EU-Mitgliedschaft demonstriert. (Florian Niederndorfer, Kim Son Hoang, Adelheid Wölfl, red, 24.6.2022)