Sowohl in seiner Größe wie auch in seiner Komplexität verschiebt dieses Bakterium Grenzen.

Olivier Gros

Mikroben sind definitionsgemäß so kleine Organismen, dass man sie nicht mit freiem Auge, sondern nur mit einem Mikroskop erkennen kann. Doch bis zu einem am Donnerstag erstmals offiziell beschriebenen Bakterium, das in abgelegenen Mangroven in der Karibik lebt, scheint diese Information nicht vorgedrungen zu sein: Der fadenförmige Einzeller ist auch ohne jede Vergrößerung gut sichtbar und wird bis zu zwei Zentimeter lang.

Damit ist Thiomargarita magnifica – so der Name des Ungetüms – zwar immer noch recht klein. Dieses Bakterium sprengt aber alle bisherigen Vorstellungen davon, wie groß Bakterien werden können. Im Normalfall messen diese Mikroorganismen, die keinen Zellkern besitzen, zwischen 0,3 und fünf Tausendstel eines Millimeters. Nur zum Vergleich: Unsere Haare sind in etwa 50-mal dicker. Bis zur Entdeckung des Giganten aus der Karibik ging man davon aus, dass ein bis zwei Millimeter die absolute Maximalgröße für Bakterien sind.

Langwierige Entdeckungsgeschichte

Die Entdeckung der "herrlichen Schwefelperle" (so die wörtliche Übersetzung des wissenschaftlichen Namens) war langwierig. Denn ursprünglich hielt der Meeresbiologe Olivier Gros die von ihm vor zehn Jahren erstmals beobachteten Fäden, die auf den Kleinen Antillen an verrottenden Blättern von Mangroven wachsen, für Pilze. Ein so langes Bakterium schien undenkbar.

Mangroven auf den Kleinen Antillen, wo die Riesenbakterien leben.
Foto: Olivier Gros

Fünf Jahre später wurde klar, dass es sich um ein Bakterium handelt. Und erst jetzt, weitere fünf Jahre später, wurde es mit all seinen erstaunlichen Eigenschaften im Fachjournal "Science" von einem Team um Gros und seinem ehemaligen Dissertanten Jean-Marie Volland vorgestellt. (Ein noch nicht fachbegutachteter, aber frei zugänglicher Preprint war schon im Februar erschienen.)

Wie das Team um Volland und Gros berichtet, stellt das gramnegative nicht phototrophe schwefeloxidierende Gammaproteobakterium (so die offizielle Einordnung) nicht nur die Vorstellungen darüber auf den Kopf, wie groß Mikroben werden können. Thiomargarita magnifica ist auch erstaunlich komplex für eine Mikrobe.

Bakterium verschiebt Grenzen

So besitzt das Bakterium in seiner einzigen langgezogenen Zelle, die in Segmente aufgeteilt ist, zwei Membransäcke, von denen einer mit Wasser gefüllt ist, was für die enorme Größe sorgen dürfte. Der andere Membransack enthält die für ein Bakterium überaus umfangreiche DNA. Beides wurde in dieser Form noch nie beobachtet.

Damit verwischt die Riesenmikrobe auch die in der Biologie fundamentale Grenze zwischen Prokaryoten – Einzellern ohne Zellkern – und Eukaryoten – allen anderen Lebensformen inklusive Tiere und Pflanzen – und könnte damit ein Missing Link in der Evolution komplexen Lebens sein. (Klaus Taschwer, 23.6.2022)