Erste Berührung

Birgit Birnbacher

Elfriede Jelinek: "Die Liebhaberinnen" rororo Taschenbuch, 10,30 Euro, 1989
Cover: Rowohlt Verlag

Ich war sehr jung, vielleicht siebzehn, als ich Elfriede Jelineks Die Liebhaberinnen (rororo Taschenbuch, 10,30 Euro, 1989) las. Ich war Lehrling im Salzburger Innergebirg und sah auf einmal überall nur noch die Paulas und Brigittes aus dem Roman. Frauen, die Männer zu den Hauptattraktionen ihres Lebens machten, die ihre eigenen Fähigkeiten, Bedürfnisse und Ziele hintanstellten und es ins Zentrum ihrer Lebensziele rückten, sich vom Richtigen schwängern zu lassen, wobei der Richtige selbstredend der war, der ökonomisch am meisten hergab.

Es war das erste Mal, dass ich über die Verhältnisse las, unter denen ich selbst lebte. Vielleicht war es auch so etwas wie meine erste Berührung mit der Soziologie, die ich später, als ich von dort weggegangen war, leidenschaftlich studiert habe. Diese Leidenschaft war vor allem in der reduziert protokollartigen Mündlichkeit begründet, die die empirische Sozialforschung einem auferlegt.

Birgit Birnbacher gewann 2019 den Bachmann-Preis.
Foto: Bogenberger Autorenfotos

Teil der Verhältnisse zu sein, aber gleichzeitig Beobachter*in – ermöglicht wurde das bei Jelinek durch den Verzicht auf jedes sprachliche Tamtam. Dieser Text war karg und bitter, er schmeckte nach allem, was ich sah und kannte, nach allem, wovor ich mich fürchtete. Zugleich war da aber eben auch diese Möglichkeit, die der Text mir zeigte: die Verhältnisse, unter denen ich lebte, wegzurücken von mir, obwohl ich ein Teil von ihnen war; mich ihnen zu entziehen, indem ich sie beschrieb.

Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. 2019 gewann sie mit dem Text "Der Schrank" den Bachmann-Preis.


Pionierleistung

Gertraud Klemm

Brigitte Schwaiger: "Wie kommt das Salz ins Meer." Haymon, Neuauflage, 9,95 Euro, 2021
Cover: Haymon Verlag

Die schwierige Wahl fiel auf Brigitte Schwaigers Roman Wie kommt das Salz ins Meer (Haymon, Neuauflage, 9,95 Euro, 2021). Nicht nur, weil man die Autorin posthum gar nicht genug rehabilitieren kann – haben doch der Literaturbetrieb und seine akademischen, medialen und wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu ihrer Zermürbung beigetragen.

Sondern auch, weil sie sich mehr getraut hat als die folgenden Generationen schreibender Frauen – mich eingeschlossen. Das Politische im Privaten so schamlos aufzudecken – biografisch, sprachlich, körperlich – war eine Pionierleistung, die sie, allem Erfolg zum Trotz, teuer bezahlt hat. Sie hat ihre Elterngeneration entlarvt und vor den Kopf gestoßen; sie hat die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen seziert, die Literaturkritik gereizt und sie hat "Frauendings" (wie illegale Abtreibungen und Missbrauch) literarisiert – Themen, mit denen man damals als Schriftstellerin mit einem nassen Fetzen von der Bühne gejagt wurde.

Gertraud Klemm gewann 2014 den Publikumspreis.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Der große Erfolg ist früh gelungen, aber seine Konsequenzen – Angststörungen, Beziehungsabbrüche, Suizid – haben sie nicht alt werden lassen. Ihre Sprache hat mich aufgeweckt, auf eine magische Art. "Woher weiß die, was ich denke?", dachte ich damals, als ich es mit 16 las. Endlich hatte Literatur was mit mir zu tun! Ich lese es immer wieder, mit Bewunderung, Lust und Staunen, aber auch mit Grauen im Hinterkopf: Seiner Zeit voraus zu sein kann nicht weniger als das Leben kosten.

Gertraud Klemm, geboren 1971, lebt in Pfaffstätten, NÖ. 2014 gewann sie in Klagenfurt mit dem Text "Ujjayist" den Publikumspreis.


Wie das Böse entsteht

Tanja Maljartschuk

Timothy Snyder: "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin". C. H. Beck, erweiterte Auflage, 35,– Euro, 2022
Cover: C. H. Beck Verlag

Die Realität, in der wir uns befinden, ist extrem herausfordernd. Man hat ein schmerzendes Bedürfnis zu verstehen, was und warum es gerade passiert. Ich möchte zwei Bücher des Historikers Timothy Snyder empfehlen, der für mich einer der wichtigsten Aufklärer unserer Zeit ist: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin (C. H. Beck, erweiterte Auflage, 35,– Euro, 2022) und Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand (C. H. Beck, 10,30 Euro, 2022).

Das eine Buch beschreibt die zwei schlimmsten Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa – und was sie unter anderem auch im Land, aus dem ich komme, angerichtet haben. Das zweite Buch stellt die Schritte dar, die man umsetzen muss, um eine neue Diktatur nicht mehr zuzulassen.

Wenn man in der Erforschung der Realität über die Geschichtslektüre hinausgehen möchte, würde ich zu Büchern über Psychopathologie raten, denn ich bin der Überzeugung, dass jeder Krieg im Kern der menschlichen Natur liegt. Wo entstehen Gewalt und das Böse? War um gibt es Täter und Opfer? Ist das Böse eine Störung?

Tanja Maljartschuk gewann 2018 den Bachmann-Preis.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Eine von vielen möglichen Anpassungen und somit ganz normal? So behauptet es zumindest die renommierte Gestalttherapeutin Elinor Greenberg in ihrem Buch Borderline und Narzissmus: Wie Menschen nach Liebe und Bewunderung streben (Kösel, 30,90 Euro, 2021). Denn ja, alle wollen geliebt und bewundert werden, dafür sind sie leider manchmal auch bereit zu töten. Dr. Greenberg beharrt darauf, dass die Verhaltensmuster geändert werden können. Das glaube ich auch, nicht zuletzt, weil ich auf die Hoffnung der Menschlichkeit nicht endgültig verzichten möchte.

Tanja Maljartschuk, geboren 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine, lebt als Schriftstellerin in Wien. 2018 wurde sie für den Text "Frösche im Meer" mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet.


Salbe für die Seele

Tex Rubinowitz

Peter Fischli & David Weiss: Findet mich das Glück? Walther-König-Verlag, 10,30 Euro, 2003
Cover: Walther König Verlag

Was muss ein Lieblingsbuch können? Es muss Trost spenden, eine Inspirationsquelle sein, und man sollte es gerne und ohne unangenehm missionarisch zu wirken, anderen schenken können, man soll sich in ihm auskennen und wohlfühlen, man sollte es im Dunkeln finden und wissen, dass es einem ein Freund ist. All das und noch viel mehr vereint Findet mich das Glück? (Walther-König-Verlag, 10,30 Euro, 2003) des Künstlerduos Peter Fischli & David Weiss aus der Schweiz.

Dieses kleine Buch enthält nichts als Fragen, auf die man nicht mal mehr eine Antwort zu geben braucht, es sind metaphysische Suggestivfragen, die Schmerzen lindern wie eine Salbe für die Seele. Das Büchlein ist Denkanstoß und Mutmacher in konfusen Zeiten aus Blei, weil es nicht mal so tut, als biete es Lösungen an, es redet nicht um den Brei herum, sondern fragt einfach: "Sind Außerirdische schon lange als Joghurt unter uns?"

Tex Rubinowitz wurde 2014 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Kinder können das Buch verstehen, und Kluge, Klempner und Hebammen verstehen es, selbst die Katze, die ich nicht habe, versteht es. Idioten können es allerdings nicht verstehen, denn sie würden sich nie die Frage stellen: "Warum geschieht nie nichts?" Ich hab mal mit David Weiss einen vergnüglichen Abend in Zürich verbracht, ich hab ihn nie etwas gefragt, weil er mit seinem Partner bereits alles mit Fragen beantwortet hat. Nun ist er tot und beantwortet sich selbst die Frage: "Soll ich Russland überfallen?"

Tex Rubinowitz, geb. 1961, lebt als Schriftsteller und Cartoonist in Wien. 2014 gewann er mit dem Text "Wir waren niemals hier" den Bachmann-Preis.


Wo ist der Tiger?

Karin Peschka

William Sayroyan: Tracys Tiger. S. Fischer (antiquarisch erhältlich)
Cover: S. Fischer Verlag

Von William Saroyans Roman Tracys Tiger besitze ich vier Ausgaben: auf Deutsch als Taschenbuch und Hardcover, eine tschechische Übersetzung und ein englisches Original aus den 1950er-Jahren (eines der schönsten Geschenke, die mir je gemacht wurden). Das S.-Fischer-Taschenbuch habe ich 1989 gekauft (Anmerkung: Das Buch ist heute in verschiedenen Ausgaben antiquarisch erhältlich).

William Saroyans Geschichte erzählt von Thomas Tracy und seinem imaginären Tiger, der ein schwarzer Panther ist, was aber keine Rolle spielt. Tracy zieht von San Francisco nach New York, wo er als Kaffee-Tester arbeiten will und sich in Laura Luthy verliebt. Der junge Mann macht einen Fehler, verliert Laura, der Tiger verschwindet. Der Versuch, ihn wiederzufinden: Das ist das Buch. Das ist die Geschichte, die mich bei jedem Lesen berührt.

Karin Peschka gewann 2017 den Bachmann-Preis.
Foto: Raphael Gabauer

Ein Zitat aus dem Buch hängt über meinem Schreibtisch. Es hat mit Zeit zu tun und mit etwas, das ich mit dem Schreiben verbinde. Das Zitat ist länger, aber hier sind die Zeilen, die ich auf Anhieb verstanden habe: "You had to be going swiftly and you had to be almost not moving at all at the same time." — "Man musste schnell gehen und sich doch zugleich fast nicht bewegen."

Was sagt der Tiger dazu? Das, was er immer sagt: "Eyeej."

Karin Peschka, geboren 1967, lebt als Schriftstellerin in Wien. 2017 gewann sie beim Bachmann-Preis mit ihrem Text "Wiener Kindl" den Publikumspreis.

(ALBUM, 25.6.2022)