Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sowie EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprachen nach der Entscheidung in Brüssel vor Journalistinnen und Journalisten.

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Brüssel – Der EU-Gipfel in Brüssel hat am Donnerstag der Ukraine und Moldau offiziellen den Beitrittskandidatenstatus verliehen. Das teilten mehrere Regierungschefs auf Twitter mit. Die EU-Spitzen sprachen von einer "historischen Entscheidung". Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem einzigartigen und historischen Moment in den bilateralen Beziehungen. "Die Zukunft der Ukraine ist in der EU", twitterte Selenskyj.

Auch Moldau wurde am ersten Tag des EU-Gipfels der Kandidatenstatus verliehen. Lettlands Ministerpräsident Krisjanis Karins nannte auch das eine "historische Entscheidung". EU-Ratspräsident Charles Michel twitterte: "Ein historischer Moment. Heute ist ein entscheidender Schritt auf Ihrem Weg in Richtung EU." Michel gratulierte Selenskyj und der moldauischen Präsidentin Maia Sandu sowie den Bevölkerungen der Ukraine und Moldaus. "Unsere Zukunft ist zusammen."

Selenskyj: "Zukunft der Ukraine in der EU"

Bosnien-Herzegowina könne heuer noch den offiziellen Beitrittskandidatenstatus bekommen, wenn es wichtige Wahlrechts- und Verfassungsreformen umsetze, sagte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) nach den Beratungen. Er sprach von einem "Paradigmenwechsel". Es sei gelungen, dass Bosnien "wieder in den Fokus zurückgekommen ist", obwohl die Ukraine mit dem Krieg das dominierende Thema sei. Zuvor hatte Nehammer vor einer Ungleichbehandlung der Westbalkanstaaten gegenüber der Ukraine gewarnt.

Selenskyj wurde nach der Entscheidung live zum Gipfel zugeschaltet. Er bedankte sich bei Michel, von der Leyen sowie den Staats- und Regierungschefs für die Unterstützung. "Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU." Auch Moldaus Präsidentin Sandu sprach von einem historischen Tag. "Wir haben einen schwierigen Weg vor uns, der viel Arbeit und Mühe erfordern wird", erklärte sie auf Facebook. Eine EU-Mitgliedschaft würde ihrem Land mehr Wohlstand, mehr Chancen und mehr Ordnung bringen. Moldau liegt zwischen der Ukraine und dem EU- und Nato-Land Rumänien.

Diskussion über Bosnien-Herzegowina

Michel teilte außerdem mit, der Gipfel habe Georgien eine europäische Perspektive gegeben. Die EU sei bereit, dem Land den Kandidatenstatus zu verleihen, sobald es die von der EU verlangten Prioritäten angehe. "Georgiens Zukunft liegt in der EU", so der EU-Ratschef. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kommentierte: "Heute ist ein guter Tag für Europa." Die Länder seien Teil der europäischen Familie. Die historische Entscheidung der Staats- und Regierungschefs bestätige das. Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schrieb auf Twitter: "27 Mal Ja! Der Europäische Rat begrüßt zwei neue Beitrittskandidaten zur EU. Auf gute Zusammenarbeit in der europäischen Familie!"

Die EU-Entscheidung hatte sich zunächst stundenlang verzögert. Grund dafür waren laut mehreren Diplomaten aber nicht Zweifel daran, dass die Ukraine den Status erhalten sollte. Vielmehr hätten einige Teilnehmer in der Debatte die Frage gestellt, ob dann nicht auch etwa das Westbalkanland Bosnien-Herzegowina einen Kandidatenstatus erhalten sollte. Das hatte etwa Ungarn vor dem Gipfel gefordert.

Bulgarien blockiert Albanien und Nordmazedonien

Der Grund ist eine etwas andere Systematik, die für beide Länder gelten würde. Die EU-Kommission hat etwa für Bosnien-Herzegowina Anforderungen formuliert, deren Erfüllung dann zum Kandidatenstatus führen würde. Im Fall der Ukraine wird der Status aber vor der Erfüllung der Auflagen erteilt. Etliche EU-Staaten, darunter Österreich und Deutschland, hatten mehrfach gewarnt, dass die Solidarität mit der Ukraine nicht dazu führen dürfe, die sechs Westbalkanstaaten Serbien, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien, Kosovo und eben Bosnien-Herzegowina vor den Kopf zu stoßen.

Bosnien-Herzegowina hat auch noch keinen offiziellen Kandidatenstatus. Die EU-27 einigten sich nun auf eine Formulierung, die dem Land eine Art Automatismus zum Kandidatenstatus in Aussicht stellt, wenn es die Anforderungen erfüllt. Bei Nordmazedonien und Albanien blockiert derzeit Bulgarien die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen.

Die Entscheidung folgte einem eher kontroversen EU-Westbalkan-Gipfel am Vormittag in Brüssel. Der albanische Ministerpräsident Edi Rama attackierte Bulgarien. "Es ist eine Schande, dass ein Nato-Land zwei andere Nato-Länder als Geiseln hält", sagte er zur bulgarischen Blockade. Die anderen 26 EU-Staaten hätten eine "furchterregende Show der Impotenz" gezeigt.

Bulgarien arbeitet an Lösung

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte zeigte sich aber optimistisch, dass die bulgarische Blockade bald beendet wird. "Es gibt eine 50- bis 60-prozentige Chance, dass es kommende Woche einen Durchbruch geben kann", sagte er. Bulgarien arbeite hart an einer Lösung. Der bulgarische Ministerpräsident Kiril Petkow bat mit Hinweis auf die innenpolitischen Turbulenzen um Verständnis, verwies aber auch darauf, dass das bulgarische Parlament "sehr bald" eine Entscheidung zu Nordmazedonien treffen werde. So lange müsse er die gegenwärtige Position vertreten, betonte Petkow, dem das Parlament in Sofia am Mittwoch das Misstrauen ausgesprochen hatte. "Die Verzögerung wird nicht lange dauern", sagte er.

Mit der einstimmigen Entscheidung der 27 Mitgliedsstaaten erkennt die EU die Anstrengungen der Ukraine und Moldaus um eine Beitrittsperspektive an und will ihnen Mut machen, den Weg entschlossen fortzuführen. Vor allem Selenskyj hatte angesichts des russischen Krieges gegen sein Land zuletzt immer wieder eine solche Botschaft der EU gefordert – auch um den mehr als 40 Millionen Bürgern seines Landes zu zeigen, dass sich der Kampf für Freiheit und Demokratie lohne.

Kandidatenstatus als erster Schritt

Der EU-Kandidatenstatus ist aber noch keine Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsgesprächen. Dazu ist wieder ein einstimmiger Beschluss der EU-Staaten erforderlich. Eine Garantie für eine zügige Aufnahme ist der Kandidatenstatus also nicht. Nach einer Empfehlung der EU-Kommission sollen Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau erst dann beginnen, wenn diese weitere Reformauflagen erfüllt haben. Dabei geht es etwa um Justizreformen und eine stärkere Korruptionsbekämpfung.

Dass der Beitrittsprozess auch in einer Sackgasse enden kann, zeigt der Fall Türkei. Das Land hat bereits seit 1999 den Kandidatenstatus. Die 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen liegen allerdings seit Jahren wegen der aus EU-Perspektive unbefriedigenden Entwicklungen in dem Land auf Eis.

Georgien muss Auflagen erfüllen

Zunehmend frustriert sind die ebenfalls auf einen EU-Beitritt hoffenden Westbalkanstaaten. Bulgarien blockiert seit mehr als einem Jahr die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien, weil sich Nordmazedonien weigert, auf Forderungen zu den Themen Minderheiten, Geschichtsschreibung und Sprache einzugehen.

Die Ukraine hatte vor knapp vier Monaten kurz nach Beginn des russischen Angriffs die Aufnahme in die EU beantragt. Kurz darauf reichten auch der kleine Nachbar Moldau sowie das im Südosten Europas gelegene Georgien Beitrittsanträge ein. Das rund 3,7 Millionen Einwohner zählende Georgien soll den Beitrittskandidatenstatus allerdings erst bekommen, wenn es weitere Reformauflagen erfüllt. Es ist nach Einschätzung der EU-Kommission derzeit deutlich instabiler als das rund 2,6 Millionen Einwohner zählende Moldau und die Ukraine. (APA, 23.6.2022)