In seiner Zeit als Leiter der Regulierungsbehörde habe Walter Boltz mehrmals vor der großen Abhängigkeit von russischem Gas gewarnt, sei aber nicht gehört worden. Im STANDARD-Interview warnt er vor einem totalen Gaslieferstopp im Herbst.

STANDARD: Der nächste Winter scheint noch fern, kommt aber gewiss. Fraglich ist, ob und in welcher Menge dann noch Gas aus Russland kommt. Was sagt Ihr Bauchgefühl?

Walter Boltz: Ein bisschen Gas wird wohl noch kommen. Wir müssen unsere Planungen aber darauf einstellen, dass ab August oder September die Gaslieferungen stoppen.

STANDARD: Sie meinen Totalausfall?

Boltz: Vielleicht gibt es ein paar Ausnahmen, dass etwa die Türkei, Serbien und Ungarn noch Gas bekommen, die Liebkinder von Russland, sonst aber kaum noch wer.

STANDARD: Auch nicht Österreich?

Boltz: Auch wenn wir keine Waffen in die Ukraine schicken, glaube ich nicht, dass eine Ausnahme gemacht wird. Mitgehangen, mitgefangen. Das Handeln Russlands wird auch stark davon abhängen, wie Europa auf diese Provokation reagiert.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Boltz: Je geschlossener die EU gegenüber Moskau auftritt, desto eher werden die Russen weiter Gas liefern. Je mehr die Front aber bröckelt, desto mehr wird Moskau motiviert, die Schrauben noch fester zu ziehen in der Hoffnung, den einen oder anderen EU-Mitgliedsstaat doch auf seine Seite zu bringen.

Boltz: "Wir müssen uns darauf einstellen, dass ab Herbst die Gaslieferungen stoppen."
Foto: privat

STANDARD: Die Geschichte von fehlenden Ersatzteilen als Grund für die verringerten Gaslieferungen über Nord Stream 1 haben Sie nie geglaubt?

Boltz: Nein, das ist Schwachsinn. Wartungsarbeiten im Sommer sind nichts Besonderes. Dass diese Wartung aber genau dann zu technischen Problemen führt, wenn vier Regierungschefs der EU (Deutschlands Olaf Scholz, Frankreichs Emmanuel Macron, Mario Draghi aus Italien und Klaus Iohannis aus Rumänien, Anm.) in Kiew sind, an den Zufall glaubt wirklich nur das Christkind.

STANDARD: Was könnte die Ratio dahinter sein? Russland ist auf Einnahmen aus dem Gasverkauf angewiesen. Und mit dem Getöse ist es Moskau zumindest vorerst gelungen, die Preise wieder nach oben zu schnalzen.

Boltz: Ich glaube, die ultimative Zielsetzung Moskaus ist es, die europäische Einheitsfront zu sprengen, Waffenlieferungen an die Ukraine zu verhindern und die Sanktionen weg-, zumindest keine neuen aufgebrummt zu bekommen. Solange die Russen glauben, dies durch einen Lieferstopp zu erreichen, ist es ihnen sicher wert, dass sie ein, zwei Monate auf Gaserlöse verzichten. Wenn sie hingegen den Eindruck haben, es tut sich nichts, wird für sie die finanzielle Komponente wichtiger.

Die Gasspeicher müssten randvoll sein, meint Experte Walter Boltz.
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STANDARD: Unsere Speicher sind zu knapp 43 Prozent gefüllt. Das ist nicht nichts, aber offenbar zu wenig, um über den Winter zu kommen.

Boltz: Die Speicher müssten randvoll sein. Wir haben zwar etwas Eigenerzeugung in Österreich, so um die 900 Millionen Kubikmeter im Jahr, ein bisschen etwas wird man auch am europäischen Markt bekommen. Beim Gas in den Speichern weiß man allerdings nicht, wer der Inhaber ist. Es ist nicht gesagt, dass Händler das eingespeicherte Gas für Kunden in Österreich nutzen. Möglicherweise verkaufen sie es um viel Geld anderswohin.

STANDARD: Mit der Energielenkung, die dann wohl in Kraft treten würde, gäbe es dann schon Instrumente, Gasexporte zu untersagen, oder?

Boltz: Diese Option gibt es, die muss man dann aber tatsächlich ziehen, mal sehen.

STANDARD: Man hat den Eindruck, die deutsche Regierung ist besorgter als die österreichische?

Boltz: Ich habe das Gefühl, dass die deutsche Regierung das Problem ernster nimmt und seriöser an die Probleme herangeht. In Österreich war man bis vor ein, zwei Wochen eher beschwichtigend unterwegs – im Sinne von "Wir sind die guten Kleinen, uns wird schon nichts passieren".

STANDARD: Weil man am Prinzip Hoffnung hängt, kurzfristig keine Alternativen zu russischem Gas sieht?

Boltz: Die Deutschen haben auch nicht so wahnsinnig viele Alternativen, haben sich aber von Tag eins an wesentlich mehr bemüht. Sie haben das Problem analysiert und Maßnahmen gesetzt. Das beginnt bei Trivialitäten wie einem Sparaufruf. Warum Energieministerin Leonore Gewessler nicht schon im März einen Appell an die Konsumenten und Konsumentinnen gerichtet hat, ist mir unerklärlich.

STANDARD: Aus Angst vor der Reaktion der Wählerinnen und Wähler?

Boltz: Ein Aufruf zum Energiesparen sollte doch für eine Grüne nicht rufschädigend sein, denke ich.

STANDARD: Sehen Sie bei sich selbst Versäumnisse? Schließlich waren Sie viele Jahre Chef der E-Control.

Boltz: Ich habe mehrmals auf den hohen Anteil von russischem Gas hingewiesen und gesagt, dass das ungesund ist. In der Politik hat man das nicht so gerne gehört. Vielleicht hätte ich lauter schreien sollen. (Günther Strobl, 24.6.2022)