Sollte man das probiert haben? Duc grinst. Der schmale 26-Jährige steht vor dem Foto einer Chilisauce und schüttelt den Kopf. "Für Nichtvietnamesen ist die zu hart." Auf dem Foto unterscheidet sie sich wenig von dem, was man aus heimischen Asiarestaurants kennt: rot, stückig, mutmaßlich scharf.

"Die ist mit Shrimpspaste gemacht", erklärt Duc, quasi eine Fischsauce auf Speed. Ganz nebenbei liefert sie damit ein Symbol für die beiden Welten, die am Stadtrand von Prag zusammenkommen. Wer sie bestellt, bekommt unaufgefordert einen Kaugummi mitgereicht. "Hier in Sapa stört das niemanden, aber viele müssen am Nachmittag ja wieder in die Gesellschaft da draußen."

TTTM ist auf Vietnamesisch ein Akronym für "Einkaufszentrum".
Foto: Nikolaus Ostermann

Sapa – benannt nach einem vietnamesischen Luftkurort – ist eine Art Gewerbepark im Süden Prags. Auf 35 Hektar bietet das Gelände, auch "Little Hanoi" genannt, der vietnamesischen Community in Tschechien eine fast vollständige Infrastruktur aus Handel, Dienstleistungen und Vergnügen. Es gibt Restaurants, Geldwechselstuben, einen Kindergarten. Es gibt Lebensmittelgeschäfte, viele Nagelstudios und noch mehr Friseure. Wer möchte, findet in Sapa Brautmodengeschäft, Hochzeitsplaner und die passende Location für bis zu 700 Gäste.

Duc Ahn, Sohn vietnamesischer Einwanderer, arbeitet als Tourguide für Sapa Tours.
Foto: Nikolaus Ostermann

"Seht ihr den Springbrunnen da vorne? Feng-Shui", sagt Duc. "Alles hat hier seinen Sinn." Er ist Tourguide bei "Sapa Tours", die Führungen durch die "Stadt in der Stadt" anbieten. Sie sei allen Besuchern, die zum ersten Mal herkommen, schwer empfohlen. In Sapa ist wirklich viel wie in Ostasien: Vor den Geschäften türmt sich Ramschware, alte Männer mit wenigen Zähnen verkaufen Orangensaft aus Handkarren, die Verständigung fällt schwer. "Die Geschäftsinhaber gehören hier fast alle noch zur ersten Generation", sagt Duc. Oder es seien Vietnamesen, die erst später nach Tschechien eingewandert seien. "Für viele Leute aus meiner Generation ist das nicht mehr attraktiv."

Die buddhistische Pagode ist die einzige Einrichtung in Sapa, die keine Miete zahlen muss.
Foto: Nikolaus Ostermann

Betonkorallenriff

Nicht ganz in Sapa, aber knapp 200 Meter entfernt, lehnt ein typisches Beispiel für ein Mitglied der zweiten Einwanderergeneration an einer Säule in seinem Restaurant. Peter Chen – der sich wie viele Asiaten einen westlichen Rufnamen zugelegt hat – hat zwar seine Wurzeln in China, aber die Geschichten ähneln sich fast alle. Die erste Generation, die Eltern, standen oft noch um drei Uhr auf, um die Ersten beim Großmarkt zu sein. Chen hat einen Abschluss in Betriebswirtschaftslehre von einer Londoner Uni, spricht mehrere Sprachen fließend und schläft gerne länger.

Mit dem Restaurant Wudu hat sich der Endzwanziger vergangenes Jahr selbstständig gemacht, im Kopf plant er schon das nächste. "Als ich jung war, war man gegenüber Nichtasiaten in Sapa noch fast feindselig", sagt Chen. Das habe sich zum Glück geändert, es sei heute einladender, was natürlich auch mit den Jüngeren zu tun habe. "Unsere Elterngeneration spricht meist kein Englisch, oft kaum Tschechisch." Wenn er in seinem Restaurant etwas braucht, ruft er in Sapa an. Entweder bei den Vietnamesen oder den Chinesen. Das vietnamesische Handelsviertel hat auch einen chinesischen Teil, während der koreanische Shop von Vietnamesen betrieben wird. Es ist kompliziert.

Die frischen vietnamesischen Kräuter werden nicht importiert, sondern vor der Toren Prags angebaut;
Foto: Nikolaus Ostermann

Das Geschäftsmodell von Sapa ist im Grunde dasselbe wie in einem Einkaufszentrum: Die Betreiber verpachten Fläche. Im Zentrum des Areals steht eine alte Fabrik. Diese verfällt seit knapp 25 Jahren langsam vor sich hin. Trotzdem wird das Gebäude intensiv genutzt: Im Erdgeschoß sind Geschäfte, im Obergeschoß Büros. Auch in den Nebengebäuden wurde mit der Zeit jeder Quadratmeter besiedelt, auf den Freiflächen am Gelände wird ständig erweitert und zugebaut. Ein Store reiht sich an den nächsten. Ein bisschen wirkt das hier wie ein Beton gewordenes Korallenriff, das mit der Zeit wieder von Leben überwuchert wurde.

Die Glückskatzen sollen das Geld hereinwinken.
Foto: Nikolaus Ostermann

Ein Meer aus Kleinlastern

Die Geschichte des Viertels, im Schnelldurchlauf erzählt: In den 90er-Jahren gehört das Gelände noch zu einem großen Fleischverarbeitungsbetrieb. Als der schließt, pachten clevere vietnamesische Investoren das Gelände. Ab 1999 siedeln sich Unternehmer aus der Community an. Wie in vielen Migrantengruppen ist auch unter den Vietnamesen die Selbstständigkeitsquote extrem hoch. Sapa entwickelt sich schnell zu einem zentralen Handelsplatz, über den Waren aus Asien ihren Weg in die Geschäfte in Mitteleuropa machen. Sapa und die Diaspora haben eine quasi symbiotische Beziehung.

Als in den 90ern immer mehr vietnamesische Einzelhändler von Billigkleidung auf Obst und Gemüse umsteigen, wo die Margen höher sind, wächst dieses Angebot in Sapa rasant. Ein Teil hier zeugt immer noch von der Anfangszeit, aus der Sapa seinen schlechten Ruf hat. Enge, überdachte Gänge führen durch Reihen von fixen Ständen, die günstige Kleidung und Ramsch verkaufen. Die Shops mit den Luxus-Fakes sind vermeintlich geschlossen, außer man klopft an.

Tamda Foods ist ein gigantischer Supermarkt.
Foto: Nikolaus Ostermann

Im Jahr 2008 beginnt eine Transformation. Erstmal eher unfreiwillig: Nahe des Tors 3 brennt eine Lagerhalle ab. 350 Feuerwehrleute sind im Einsatz, es macht landesweit Schlagzeilen. Sapa beginnt sich zu öffnen, auch Einzelhandel und später sogar Tourismus werden zugelassen. Der Großhandel ist allerdings nicht verschwunden. Wer sich durch Sapa bewegt, sieht ein Meer aus Kleinlastern. In einer ehemaligen Hühnerfarm, die später zum Gelände zugekauft wird, ist heute der Tamda Foods untergebracht – ein riesiger Supermarkt, irgendwo zwischen Billa, Metro und Asia-Store.

Welten vereinen

Mittlerweile nutzen auch viele Tschechen, die keinen Bezug zu Vietnam haben, die Einkaufs- und Arbeitsmöglichkeiten des Viertels. Die Welten wachsen zusammen. Im sechsstöckigen "Hochhaus" von Sapa gibt es einen praktischen Arzt aus Vietnam, der eine tschechische Krankenschwester beschäftigt. Bei der Zahnärztin daneben ist es andersherum. Und auch sonst wird in Sapa längst nicht mehr alles importiert: Die vietnamesischen Kräuter, die in den Lebensmittelgeschäften angeboten werden, werden vor den Toren Prags angebaut.

Und doch gibt es Dinge, die für den durchschnittlichen Europäer kulturell schwer zugänglich sind. Eine wichtige Einrichtung ist die Nachmittagsschule, in der vietnamesische Kinder weiterlernen, wenn ihre staatliche Schule vorbei ist. Die Dichte an dicken BMW und Mercedes ist atemberaubend. "Vietnamesen sind Materialisten", sagt Duc. "Wir zeigen lieber das neue Auto her, anstatt auf Urlaub zu fahren." Manche Geschäfte tragen Namen wie "999" oder "555". Man ist sehr abergläubisch, wenn es um Zahlen geht. Die Vier ist eine Unglückszahl, weshalb das Büro, wo Händler eventuelle Strafen bezahlen, auch beim Tor 4 liegt.

Offiziell leben in Tschechien knapp 63.000 vietnamesische Staatsbürger, die drittgrößte Ausländergruppe im Land. Diese Zahl umfasst aber nicht die vietnamesischstämmigen Tschechen, die Community ist deutlich größer. Es kursieren Zahlen von 80.000 bis 200.000. Die Vietnamesen waren hinter dem Eisernen Vorhang das, was die Italiener oder die Türken für den Westen waren: dringend benötigte billige Arbeitskräfte. Ab den 50er-Jahren wurden sie im Rahmen von "Freundschaftsverträgen" angeworben, was sich in den 70er- und 80er-Jahren verstärkte. Ein dauerhafter Verbleib der "Leiharbeiter" war nicht vorgesehen, Integrationsbemühungen gab es kaum. Nach der Wende blieben viele trotzdem, auch Ducs Vater.

Foto: Nikolaus Ostermann

Hühnerfußsalat

Es ist Mittagszeit in Sapa, und es füllt sich zusehends. Wer im Viertel arbeitet, wohnt bevorzugt in der Plattenbausiedlung daneben. Zu den Essenszeiten wird es aber auch einfach zu einer großen Gastro-Meile für die gesamte Umgebung. Während Duc den Unterschied zwischen zwei Restaurants erklärt ("Hier essen eher die Tschechen, dort nur Vietnamesen"), tippt ihm eine junge Frau auf die Schulter. Hanna ist mit ihrer Kollegin hier und auf der Suche nach einem Tisch. "Wir arbeiten im Krankenhaus. Da ist es wichtig, mittags mal rauszukommen."

Hanna ist in Sapa bekannt, weil sie viel Community-Arbeit macht, Spieleabende und Treffen organisiert. "Nirgendwo in Tschechien bekommt man besseres vietnamesisches Essen als in Sapa."Das Angebot ist breit und von der nordvietnamesischen Küche beeinflusst. Es gibt alles, vom Bánh-mì-Baguette (Tipp: Im "Halo" frühstückt quasi ganz Sapa) über verschiedenste Arten von Ph? bis zu exotischen Kreationen wie Bún giả cầy, bei dem Schweinefleisch so zubereitet wird, dass es an Hund erinnert. "Oft wird die vietnamesische Küche in Europa ja eher verwässert", sagt Duc. "In Sapa ist es umgekehrt: Hier gibt es einen Wettbewerb darum, wer am authentischsten kochen kann."

Vieles ist unproblematisch, nur eben ungewohnt für westliche Gaumen. Wie Hühnerfußsalat oder original vietnamesischer Kaffee, der mit rohem Eiklar serviert wird. Unter der Hand kriegt man allerdings auch so manches Gericht, das den europäischen Hygiene-Standards nicht entspricht. Wie einen Pudding, bei dem Entenblut ohne Erhitzen geliert wird. Nachdem diese aber nicht auf der Karte stehen und auch nicht an Weiße verkauft werden, schauen die Behörden da vielleicht ein Stück weg. Was aber nicht heißt, dass man in Sapa tun kann, was man will. Es gelten die Gesetze Tschechiens und der EU, und die Behörden kommen immer wieder unangekündigt auf das Gelände. Heute passiert das seltener als früher, auch weil sich in Sachen Hygiene einiges getan hat. Zumindest zwei der fünf Fleischhauer auf dem Gelände schauen heute so aus, als könnten sie auch in Wien-Hernals stehen.

Auf der Straße verkaufen Männer frisch gepressten Zuckerrohrsaft und fahren Bestellungen aus.
Foto: Nikolaus Ostermann

Sapa verändert sich langsam, und ein wenig putzt es sich heraus. Viele Restaurants haben während der Lockdowns renoviert, einige Neueröffnungen richten sich vor allem an Touristen. Noch ist das Gelände ein Geheimtipp, aber das muss nicht so bleiben. Vergangenes Jahr machte das Gerücht die Runde, Investoren aus Russland würden das Gelände übernehmen wollen. Egal, was die Zukunft bringt: Ein "Vietnam-Disneyland" wird Sapa noch lange nicht werden. Sorgen muss man sich wahrscheinlich erst dann machen, wenn der Schweinehund nicht mehr auf der Karte steht. (Jonas Vogt, 27.6.2022)