Harry, Hermione und Ron sind für Millennials so wichtig, wie es die Beatles für die Babyboomer waren.

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In sozialen Medien herrscht ein humorvoller Kulturkrieg zwischen den Generationen. Dort halten junge Userinnen und User damit, was ihnen an der vorhergehenden Generation der Millennials auf den Nerv geht, nicht hinterm Berg. Die zwanghafte Avocadofresserei von Menschen zwischen ungefähr 30 und 40 und ihre blöden Skinny Jeans finden die Jüngeren herzlich lächerlich. Aber am lächerlichsten finden sie, wie sehr sich Millennials mit "ihrem" Hogwarts-Haus identifizieren: Ob man sich als Gryffindor, Ravenclaw, Hufflepuff oder Slytherin fühlt, beschäftigt viele Millenials auch noch 25 Jahre nach Erscheinen des ersten Harry-Potter-Buchs.

Wie alles begann

Am 26. Juni 1997 brachte der Londoner Verlag Bloomsbury Publishing Harry Potter and the Philosopher’s Stone von J. K. Rowling heraus. Der Alleinerzieherin war die Idee zur siebenteiligen Reihe über den Zauberlehrling 1990 bei einer Zugfahrt gekommen. Von zwölf Verlagen erhielt sie Absagen, darunter auch Bloomsbury. Dort besann man sich allerdings und gab dem Kampf zwischen Gut und Böse in einer mageren Auflage von 500 Stück doch noch eine Chance. Fun-Fact: 2021 brachte eine Ausgabe aus dieser ersten Edition 471.000 Dollar bei einer Auktion. Der Harry-Potter-Erfolgszug – Fans wissen, er startet von Gleis 9¾ – nahm Fahrt auf, als der amerikanische Verlag Scholastic die Rechte am Buch um eine sechsstellige Summe ersteigerte. Das war an sich schon eine Geschichte, die Medien aufgriffen, und es dauerte nicht lange, bis "the boy who lived" seinen Siegeszug antrat.

Das ursprünglich für Kinder und Jugendliche geschriebene Buch war zuerst bei Erwachsenen beliebt, bevor es von der eigentlichen Zielgruppe, den heutigen Millennials, regelrecht aufgefressen wurde. Ausgehend von den Büchern, von denen mittlerweile mehr als 500 Millionen Stück verkauft wurden, wurde Harry Potter zu dem bestimmenden popkulturellen Phänomen für diese Generation, ungefähr wie es die Beatles für Babyboomer waren. Denn wie die Beatles blieb auch Harry Potter für die nachfolgende(n) Generation(en) relevant – eine regelrechte Obsession mit der Welt von Harry Potter entwickelten aber nur die Millennials.

Foren und Fantasy

Denn zur selben Zeit, als Harry Potter populär wurde, wurde auch eine andere zauberhafte Welt immer wichtiger: die Welt Wide Web. Das Internet ermöglichte eine völlig neue Art des globalen Austauschs und definierte Fankultur neu. Fantasy war plötzlich kein Nischen- oder Nerd-Phänomen mehr, sondern kam in der Mitte der Gesellschaft an. Neben dem ersten Harry-Potter-Film 2001 lief im selben Jahr auch Peter Jacksons erster The Lord of the Rings-Film im Kino, später folgten Filmreihen wie Twilight oder Chronicles of Narnia, die auf Büchern basierten. Auch den Schritt ins "Serielle" schaffte der Fantasy-Hype, denkt man an überaus erfolgreiche Produktionen wie Game of Thrones.

Neben Magie boten die Potter-Bücher auch immer einen fruchtbaren Boden für sehr reale Diskussionen. Bereits bei ihrem Erscheinen wurden sie in zahlreichen Ländern verboten, durchaus auch in so mancher Schule in den USA oder Europa, weil sie Okkultes oder gar Satanismus propagieren würden. Die Bücher hatten aber nicht nur mit Zensur von konservativer Seite zu kämpfen, auch aus dem anderen Lager hagelte es Kritik. Interessant ist dabei, dass der Diskurs um Harry Potter den gesamtgesellschaftlichen Diskurs um Themen wie Inklusion, (Anti-)Rassismus oder Homosexualität sehr gut widerspiegelt. Während Rowling anfangs dafür gelobt wurde, Literatur für Jugendliche mit progressiven Ideen zu versehen, halten heute viele Kritikerinnen und Kritiker die Bücher für elitär und verstaubt. Auch die Debatte um Rowling selbst, die sich mehrfach kontrovers zum Thema Transidentität geäußert hat, befeuerte negative Lesarten der Reihe.

An Magie gebunden

Viele Millennials wandten sich von Rowling ab oder lesen die Bücher heute kritischer. Trotzdem blieb bei vielen die Bindung an die Welt voller Magie. Nicht nur, weil die Hauptcharaktere der Bücher bei deren Erscheinen ungefähr im gleichen Alter wie ihre Leserinnen und Leser waren, man also mit den Figuren aufwuchs, oder man sich mit Gleichgesinnten offline und online austauschen konnte, sondern auch, weil die Harry-Potter-Reihe einer ganzen Generation eine gemeinsame eskapistische Coming-of-Age-Erfahrung voller Zauber anbot. Während heutige Jugendliche auf Klimastreiks zusammenfinden und sich unangenehmen Realitäten stellen, wünschen sich Millennials gern die heile Zauberwelt ihrer Jugend zurück – egal ob Gryffindor oder Slytherin. (Amira Ben Saoud, 26.6.2022)