Unmittelbar nach der höchstgerichtlichen Entscheidung, Roe vs Wade zu kippen, versammelten sich Demonstranten und Demonstrantinnen vor dem Supreme Court.

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In den USA gibt es kein landesweites Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche erlaubt oder verbietet. Bisher stellte aber ein Urteil des Obersten Gerichts, das als Roe vs. Wade bekannt ist, sicher, dass Abtreibungen mindestens bis zur Lebensfähigkeit des Fötus erlaubt waren. Am Freitag hat der Supreme Court diese historische Entscheidung gekippt.

Damit ist das aktuell geltende Recht auf Abtreibung in den Vereinigten Staaten nach fast einem halben Jahrhundert Geschichte. Sechs der neun Richter stimmten dafür, Roe vs. Wade zu kippen, wie der Supreme Court mitteilte. "Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung", hieß es in der Urteilsbegründung. US-Präsident Joe Biden nannte die Entscheidung einen "tragischen Fehler".

Die Entscheidung ist keine Überraschung: Anfang Mai hatte das Magazin "Politico" einen Entwurf dazu veröffentlicht. Daraus ging bereits hervor, dass das Gericht so entscheiden will. Das Urteil ist nun so drastisch wie erwartet. In etwa der Hälfte der Bundesstaaten dürfte es nun zu weitgehenden Einschränkungen kommen. Kurz nach Verkündung der Entscheidung des Supreme Courts machte Missouri sogleich den Anfang: Mike Parson, Gouverneur des Bundesstaats Missouri, unterzeichnete bereits eine Regelung, die fast alle Abtreibungen untersagt.

Die Benennung des Grundspruchs, der nun gekippt wurde, ergibt sich aus dem anonymisierten Namen der klagenden Frau "Jane Roe" (links in dem Bild im Jahr 1973), und dem Namen des texanischen Bezirksstaatsanwalts Henry Wade.
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Eine Chronologie:

  • Das Grundsatzurteil Roe vs. Wade hatte 1973 einen Schwangerschaftsabbruch unter das Recht auf Privatsphäre gestellt. Gesetzliche Abtreibungsverbote waren damit im ersten Trimester der Schwangerschaft gar nicht möglich, im zweiten Trimester nur eingeschränkt möglich und im dritten Trimester nur dann zulässig, solange Leben oder Gesundheit der Schwangeren nicht in Gefahr waren. Bestehende, die Abtreibung kriminalisierende Einzelstaatengesetze wurden für ungültig erklärt. Doch das Fortbestehen der Regelung hing maßgeblich von der Besetzung des Supreme Court ab.
  • Im Jahr 1992 entschied der Supreme Court, nachdem mit Clarence Thomas ein weiterer Höchstrichter von einem republikanischen Präsidenten nominiert wurde, das Urteil im Grundsatz zu bestätigen, erklärte aber staatliche Vorschriften, die keine "unzumutbare Belastung" ("undue burden") für die Schwangere darstellten, als zulässig.

Gerichtlich ausgereizt

  • In den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten wurde die Zulässigkeit des Umfangs der Belastung immer wieder gerichtlich ausgereizt: Schwangere wurden etwa verpflichtet, sich den Fötus vor der Entscheidung im Ultraschall anzusehen oder für eine Beerdigung zu sorgen. Oder sie mussten 24 bis 72 Stunden zwischen der Beratung und Durchführung des Abbruchs warten – was vor allem jene Eingriffe erschwerte, für die eine weite Anreise in Kauf genommen werden musste.
  • Im Februar 2016 starb US-Höchstrichter Antonin Scalia. Die republikanische Partei verhinderte die Bestellung eines Nachfolgers durch den amtierenden US-Präsidenten Barack Obama mit der Erklärung, eine so wichtige Entscheidung kurz vor einer Wahl sei dem Wahlsieger oder der Wahlsiegerin vorbehalten.
  • Im November 2016 gewann der Republikaner Donald Trump die Wahl. Während seiner Amtszeit besetzte er drei Posten am Supreme Court neu: mit den Konservativen Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Letztere ersetzte die liberale Richterin Ruth Bader Ginsburg, die übrigens im September 2020 verstarb – zwei Monate vor der nächsten Präsidentschaftswahl. Diesmal legte die republikanische Partei die Entscheidung allerdings nicht in die Hände des Wahlsiegers.

Konservative Bundesstaaten mit immer strengeren Gesetzen

  • Während der Amtszeit von Donald Trump zwischen 2017 und 2021 beschlossen konservativ regierte Bundesstaaten immer wieder strenge Abtreibungsgesetze, die offen gegen das Grundsatzurteil verstoßen. Das Kalkül: Wenn Klagen gegen die Gesetze eingereicht werden, könnten diese letztlich vor dem Supreme Court landen, der sich dann wieder mit Roe vs. Wade befassen müsste. Ende 2021 begann der Supreme Court Beratungen über ein Gesetz aus Mississippi, das Abtreibungen ab der 16. Schwangerschaftswoche untersagt.
  • Anfang Mai 2022 geriet ein Entwurf einer Urteilsbegründung von Höchstrichter Samuel Alito zu dem Fall an die Öffentlichkeit – demzufolge sollte Roe vs. Wade gekippt werden.
  • Nun ist die offizielle Entscheidung des Supreme Court gefallen, wie erwartet ist Roe vs. Wade Geschichte. Damit gibt es in den USA kein landesweites Grundrecht auf Abtreibungen mehr, die Sache wird den Bundesstaaten überlassen. Insgesamt wird geschätzt, dass etwa in der Hälfte der Bundesstaaten Abtreibung wieder illegal werden würde. Es sind vor allem die erzkonservativen Staaten im Süden und mittleren Westen, die Abtreibung ganz oder fast komplett verbieten wollen. Missouri machte noch am Freitag den Anfang.

Midterms im Herbst

Die demokratische Partei will das Thema zur Wählermobilisierung für die Midterms im Herbst diesen Jahres nutzen: Um ein entsprechendes Gesetz zur Verankerung legaler Abtreibung voranzubringen, sind 60 der 100 Stimmen im Senat nötig. Derzeit verfügen die Demokraten nur über 50 Sitze. Bei den Midterms stünden individuelle Freiheit und das Recht der Frauen, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, auf dem Wahlzettel, sagte die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi am Freitag. Die Entscheidung des Supreme Court nannte sie "einen Schlag ins Gesicht für Frauen".

Im Jänner 2023, nach den Midterms, könnte er das entsprechende Gesetz unterzeichnen, kündigte US-Präsident Joe Biden an. Gleichzeitig sprach er von einem traurigen Tag für sein Land. "Es ist meiner Ansicht nach die Verwirklichung einer extremen Ideologie und ein tragischer Fehler des Obersten Gerichtshofs", sagte Biden am Freitag in Washington. "Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um diesen zutiefst unamerikanischen Angriff zu bekämpfen." Der US-Kongress müsse jetzt handeln, um in der Sache das letzte Wort zu haben. "Es ist nicht vorbei", so Biden.

Auch Ex-Präsident Obama kritisierte die Entscheidung scharf: "Heute hat der Oberste Gerichtshof nicht nur fast 50 Jahre Präzedenzfälle rückgängig gemacht, er hat die persönlichste Entscheidung, die jemand treffen kann, den Launen von Politikern und Ideologen überlassen – und die grundlegenden Freiheiten von Millionen von Amerikanern angegriffen", schrieb Obama bei Twitter. Obama teilte zudem einen Bild und schrieb: "Schließt Euch den Aktivisten an, die seit Jahren Alarm schlagen beim Zugang zu Abtreibungen, und handelt".

Der Sohn von Ex-US-Präsident Donald Trump, Donald Trump Junior, dagegen feierte die Supreme-Court-Entscheidung als Sieg seines Vaters. Der habe für "unsere Bewegung" drei Richter am Obersten Gerichtshof eingesetzt, die gegen liberale Abtreibungsregeln seien. Einige Abtreibungsgegner trafen noch am Freitag vor dem Supreme Court ein, um das Urteil zu bejubeln. Darunter auch republikanische Politiker. Ebendort demonstrierten aber vor allem zahlreiche US-Bürger gegen die Entscheidung des Höchstgerichts.

Internationale Reaktionen

Auch international hat die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes für Aufsehen gesorgt. Die Vereinten Nationen etwa wiesen auf die Gesundheitsrisiken für Frauen hin. "Daten zeigen, dass die Einschränkung des Zugangs zur Abtreibung die Menschen nicht davon abhält, eine Abtreibung durchzuführen – sie macht sie nur tödlicher", hieß es vom Uno-Bevölkerungsfonds am Freitag.

Der britische Premierminister Boris Johnson bezeichnete die Entscheidung als "großen Rückschritt". Er sei immer schon der Ansicht, dass die Entscheidung bei den Frauen liegen müsse, sagte Johnson. Kanadas Premier Justin Trudeau bezeichnete das Urteil auf Twitter als "erschreckend". "Keine Regierung, kein Politiker oder Mann sollte einer Frau sagen, was sie mit ihrem Körper machen kann und was nicht", schrieb Trudeau. (Noura Maan, red, APA, 24.6.2022)