Eine Mischung aus Stolz und Belustigung liegt in ihrem Blick. Astrid K. sieht einerseits ihrem achtjährigen Sohn zu, wie er hoch begeistert Lego-Steine zusammenbaut, andererseits ihrem 38-jährigen Mann, der genau das Gleiche macht. "Es ist, als wäre ich mit zwei Kindern hier, eines davon ist aber zwei Jahre älter als ich", sagt sie.

Die Familie aus Münster ist zu Gast im Lego House im dänischen Billund, in jener Erlebniswelt, in der Fans für viele Stunden ihr Leben einzig den kleinen Bausteinen widmen. Altersunabhängig. Auf 12.000 Quadratmetern verbindet Lego das Physische mit dem Digitalen und regt die Kreativität der Besucher an. Man kann eigene Lego-Roboter programmieren, selbst gebaute Figuren auf Bildschirmen zum Leben erwecken, kurze Stop-Motion-Filme drehen oder – ganz klassisch – einfach bauen.

Aus etwa zwei Millionen Steinen besteht dieser bunte Wasserfall.
Foto: Danzer

Vater und Sohn sitzen am Fuß eines meterhohen Wasserfalls, der aus knapp zwei Millionen Steinen erbaut wurde. Beide suchen akribisch nach dem nächsten Teil für ihre Skulpturen. "Mit drei Jahrzehnten Vorsprung habe ich ein besseres Auge, kreativer ist mein Sohn aber jetzt schon", sagt Nils K. lachend. Der kleine Leonard hat keine Zeit für Zeitungsfragen. Ein "Wir bleiben hoffentlich ganz lang" fällt ab, danach widmet er sich wieder seinem Kunstwerk. Es sieht nach einem Drachen aus, Details verrät er noch keine.

Vor 90 Jahren ging es los

Im Jahr 1932 bastelte der arbeitslose Tischlermeister Ole Kirk Kristiansen erstmals aus Holzresten zusammensteckbares Spielzeug. Eine Ente sollte die Geburtsstunde von Lego sein. 90 Jahre später ist das Unternehmen immer noch da, immer noch in Familienbesitz und größer und erfolgreicher als je zuvor. Im Vorjahr blieb unterm Strich ein Gewinn von 1,3 Milliarden Euro stehen, bei einem Umsatz von rund 7,4 Milliarden Euro. Das ist sowohl umsatz- als auch gewinnseitig der dritte Rekord in Folge. Zu den Bestsellern zählten abermals Serien wie Lego City, Technic und Star Wars. Cashcows wie diese werden immer zu finden sein, dennoch wechselt Lego jährlich rund 50 Prozent des Sortiments.

Das, obwohl dieses alte, analoge Produkt nicht zwingend in den Zeitgeist passt. Kinder zieht es vermehrt vor Bildschirme, die Pandemie hat diese Entwicklung noch weiter bestärkt. Lego bildet als Gegenstück einen Anker in der haptischen, echten Welt. Tritt man drauf, tut es weh, teure Reparatur im Elektrofachhandel steht keine an.

Gewohnte Konkurrenz

Neu ist die digitale Konkurrenz aber keineswegs. Schon seit den 1990er-Jahren sind Nintendo oder Play Station aus Kinderzimmern nicht wegzudenken. Und fast genauso lange verfolgt Lego seine digitale Transformation und entwickelt sein Angebot in diese Richtung ständig weiter. Heute gibt es smarte Bausets, Apps und Plattformen für unterschiedliche Spiele und sogar ein Angebot für Schulen. Kinder bauen aus Lego kleine Maschinen und schreiben einen eigenen Code am Tablet, um diese zu bedienen.

Allein will man den Weg aber nicht weitergehen. Deswegen investiert Lego gemeinsam mit Sony zwei Milliarden Dollar in den US-Spielehersteller Epic Games, der mit Fortnite einen Welterfolg feierte. "Wir bauen ein eigenes Metaversum", heißt es. Was man sich unter diesem Sony-Epic-Lego-Metaversum vorstellen kann, verrät niemand. Von Lego kennt man das, über die Zukunft wird immer schon sehr wenig gesprochen.

Ein Einblick ins Lego House, wo Angestellte sogar Übung darin haben, Heiratsanträge zu organisieren.
The LEGO Group

Suche nach Alternativen zu Plastik

Woraus der weltgrößte Spielzeughersteller keinen Hehl macht, ist, dass das Grundprodukt neu erfunden werden muss. Plastik bringt die Dänen in die Bredouille, in Zeiten von drohender Klimakatastrophe mit Kunststoff zu werben ist mehr als ein Schönheitsfehler. Vor allem, wenn "Kinder als unsere Zukunft" die Hauptzielgruppe sind. Weg von erdölbasiertem Plastik lautet die Devise. 400 Millionen Euro investiert der Konzern, um bis 2030 eine Alternative zu finden.

"Als Kennedy die erste Mondlandung ankündigte, fehlte ein wesentlicher Teil der Technologie. Lego hat den Abschied vom Plastik zum Mondlandungsprojekt erklärt", gab sich Firmenchef Niels Christiansen zu Forschungsbeginn 2020 zuversichtlich.

Einer der Fun-Facts, die Lego am liebsten erzählt: Diese sechs Steinchen lassen sich in 915 Millionen Varianten zusammenbauen.
Foto: Danzer

Was ist seither passiert? "Wir verfolgen zwei Stränge. Einerseits arbeiten wir mit recyceltem Material, andererseits experimentieren wir mit biologischen Stoffen wie Zuckerrohr, Mais, Weizen und Zellulose", sagt Tim Brooks, Legos Vizepräsident für Umweltverantwortung dem STANDARD. Er gehe davon aus, dass bis 2030 etwa 80 Prozent der Produkte aus recyceltem und 20 Prozent aus biologisch abbaubarem Material hergestellt werden. Ein erster Schritt gelang vor Jahren, biegbare Teile wie Bäume oder Büsche werden bereits jetzt aus Zuckerrohr produziert.

Lego aus Plastikflaschen

Brooks hält eine Handvoll gräuliche 2-x-4-Klötze in der Hand, der gräuliche Farbton unterscheidet sie von dem, was man kennt. Außerdem fühlen sie sich etwas weicher an. Eine einen Liter fassende PET-Plastikflasche liefere Material für zehn solcher Steine, sagt Brooks. Doch mehr als drei Viertel der Lego-Steinchen bestehen aus Acrylnitril-Butadien-Styrol, kurz ABS. Bisher hat Lego nichts gefunden, das die Anforderungen so erfüllt wie ebendieser erdölbasierte Kunststoff.

Tim Brooks geht davon aus, dass in acht Jahren 80 Prozent der Lego-Produkte aus recyceltem Material bestehen werden und die restlichen 20 aus biologisch abbaubarem.
Foto: Danzer

Wie weit Lego mit der Forschung genau ist, bleibt geheim. In die Forschungszentrale in Billund haben nur ausgewählte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Zutritt. Offen wird nur über die Herausforderungen gesprochen: "Am schwierigsten ist es, die Steinchen zu so konzipieren, dass sie zusammenhalten wie die Altbekannten. Ein Kind muss sie gut zusammen- und auseinandernehmen können. Momentan stecken sie zu fest oder zu locker." Die Liste an weiteren Anforderungen sei lang. "Wie verhält sich das Material über Zeit? Wie verhält es sich in der Sonne? Bindet es die Farben richtig? Et cetera et cetera."

Qualitätsanforderungen

Die Qualitätsanforderungen unterstreicht auch eine Mitarbeiterin bei einer Führung durch eine der Produktionshallen: "Peinliche Genauigkeit lautet das oberste Gebot. Jeder Stein wird zehnmal überprüft." Der zugelassene Spielraum für Abweichungen entspreche der Hälfte eines menschlichen Haars.

Lego liegt mehr denn je im Trend. Um bis 2030 vom Plastik wegzukommen, investiert der Konzern 400 Millionen Euro.
Foto: EPA/LARRY W. SMITH

In der Fabrik selbst läuft praktisch alles automatisiert ab. Die flinken Roboterarme und Abläufe lassen das Laienauge beeindruckt, aber ratlos zurück. Deswegen gilt die Aufmerksamkeit schnell den Oberkörpern, Hunden oder Bodenplatten, die im Sekundentakt aus den Maschinen schießen. "Pro Stunde produzieren wir rund 4,7 Millionen Steine." Die wenigen "Gesichter", die man sieht, kommen vom Fließband und haben einen Noppenkopf.

Frage der Versorgung

In jüngerer Vergangenheit kam die Lieferkettenproblematik dazu. Eine stabile Versorgung muss gesichert sein. "Wir haben ein Henne-Ei-Problem. Rohmaterialproduzenten sind bereit, Kapazitäten auszuweiten, wenn es Abnehmer gibt. Wir sagen, wir nehmen das Material ab, wenn ihr genug produziert. Irgendjemand muss anfangen", sagt Brooks. Aktuell bezieht Lego Rohmaterialien aus den USA und Asien. Ob und wie sich ein Ölembargo gegen Russland auswirkt, kann bzw. will Brooks nicht beantworten. Lego kaufe kein Rohöl, sondern Kunststoffgranulat, dazwischen liegen fünf oder sechs Schritte. Ölpreis? Die Frage wehrt er ab. Würde eine nachhaltige Lösung mit anderen Herstellern geteilt? Die Antwort ist kein klares Nein, aber definitiv auch kein Ja.

Plastik ist nicht gleich Plastik. Lego überdauert Generationen, Steine aus den 1950er-Jahren sind mit Steinen von heute kompatibel, und Forscher der britischen Uni Plymouth haben herausgefunden, dass die Klötzchen im Meer mehr als 1000 Jahre überdauern könnten. Kritik gibt es dafür schon länger, dass Lego die langlebigen "guten" Steinchen im "schlechten" Einwegplastik verpackt. Auch das soll sich ändern. Bis 2025 sollen alle Verpackungen in Papier umgewandelt sein. Zudem bauen die Dänen in Vietnam gerade ihre erste klimaneutrale Fabrik.

Lego leitet sich von den dänischen Wörtern Leg und Godt ab, was so viel bedeutet wie "Spiel gut". Gut gespielt hat Lego beim Launch von Super Mario, es war der erfolgreichste aller Zeiten.
Foto: APA/LEGO Gruppe

Der Fast-Kollaps

Trotz aller Rekorde muss sich Lego neu erfinden. Druck in Richtung Nachhaltigkeit komme von Kunden- und Mitarbeiterseite. Der Prozess dürfte dieses Mal aber anders laufen, verglichen mit dem Fiasko Anfang der 2000er-Jahre, als das auf Stein gebaute Imperium zu zerbrechen drohte. Lego schrieb millionenschwere Verluste, tausend Jobs wurden gestrichen. Schuld war der ungebremste Wachstumsdrang: Lego wollte überall dabei sein. Kleidung, Bücher, Schmuck, Videospiele, unzählige Themenparks. All das fraß Ressourcen ohne Ende, Know-how fehlte jedoch weitgehend. Das Herzstück – den Stein – vernachlässigte man.

Im letzten Moment wurde ein Berater von McKinsey angeheuert, Jorgen V. Knudstorp. Er strukturierte den Betrieb radikal um und machte Lego wieder steinreich. 2017 drohte sich die Krise zu wiederholen, bis zur Beinahe-Insolvenz ließ man es aber nicht mehr kommen. Der Däne Niels Christiansen übernahm die Leitung, und seither geht es wieder stetig bergauf.

Lego zählt zu den Dinosauriern in der Spielzeugbranche, ausgestorben ist der dänische Konzern zwar einmal fast – jetzt ist er aber sehr weit davon entfernt.
Foto: Danzer

Know-how von außen

Schmuck, Kleidung, Computerspiele, all diese Dinge hat Lego auch heute wieder im Sortiment. Doch dieses Mal holt man sich das nötige Know-how von außen. Für Kleidung und Schuhe etwa gibt es Kooperationen mit Adidas und Levi’s. Für Computerspiele gibt es Epic Games, und für mehr Ordnung im Kinderzimmer lässt man sich von Ikea helfen.

Eine unerwartete Entwicklung fällt seit dem letzten Besuch in Billund vor zwei Jahren jedoch auf. Lego wurde verschwiegener. Damals gab Christiansen noch Interviews, heuer nicht mehr. Gesprächspartner gibt es viele, doch die antworten in Phrasen, und die PR-Abteilung überwacht jedes Gespräch.

Woran das liegt? An einer Bewusstseinsänderung, glaubt Designer Mike Psiaki. "In den letzten Jahren haben alle verstanden, was für eine Riesennummer Lego ist. Davor war das nur den wenigsten bewusst. Ich glaube, das hat alle vorsichtiger gemacht." Fundierte Auskünfte zur PR-Strategie könne er nicht geben. Von zuständiger Seite macht es allerdings auch niemand.

PR-Lapsus

Vielleicht liegt es auch an jüngsten PR-Katastrophen. Da war der Youtuber Thomas Panke, der via Anwaltsbrief aufgefordert wurde, sein Logo zu ändern. Seines – mit Noppe – erinnere zu sehr an Lego. Der Streit sorgte für viel Unmut, wurde aber schnell beigelegt. Anders sieht es bei der deutschen Firma Steingemachtes aus. Thorsten Klahold importiert und vertreibt Produkte der Konkurrenz, zumeist aus China. Das Patent der Dänen auf den ursprünglichen Klemmbaustein – so heißen die Steine offiziell – ist vor Jahren ausgelaufen. Die importierten Figuren jedoch ähnelten jenen von Lego zu sehr. Eine Klage wegen Markenrechtsverletzung folgte. Mitte Juli soll der Prozess fortgesetzt werden.

Johnny's World

Sowohl Panke als auch Klahold wissen die David-gegen-Goliath-Situation geschickt zu inszenieren und Fans auf ihre Seite zu holen. Insidern zufolge hätte Lego mit transparenterer Kommunikation viel Schaden abwenden können. In beiden Fällen verhielt sich der Spielzeugriese jedoch ungeschickt und schlitterte in PR-Desaster.

Nach 90 Jahren muss sich Lego ein weiteres Mal neu erfinden und vor allem vom Plastik wegkommen. Aber was, wenn sie keinen Ersatz finden? "Dann suchen wir weiter, es ist alternativlos", sagt Tim Brooks. (Andreas Danzer aus Billund, 26.6.2022)