Boris Johnson zog am Freitagmorgen gerade seine Bahnen im Hotelpool der ruandischen Hauptstadt Kigali, als der dringende Anruf aus London eintraf. Tags zuvor hatte die britische Regierungspartei zwei Nachwahlen zum Unterhaus krachend verloren, was angesichts des politischen Klimas auf der Insel kaum jemanden überraschte. Der Londoner Anrufer aber wartete mit einer echten Neuigkeit auf: Party-Chairman Oliver Dowden wollte dem Chef seinen Rücktritt mitteilen. Man könne nicht einfach weiterhin "business as usual" betreiben, hieß es später im Rücktrittsschreiben des einstigen Erzloyalisten an den Premierminister: "Irgendjemand muss die Verantwortung übernehmen."

Boris Johnson hatte schon mehr zu lachen.
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Panisch ließ sich Johnson mit anderen Mitgliedern seines Kabinetts verbinden, konnte aber alsbald erleichtert feststellen: Dowdens Schritt fand, jedenfalls vorläufig, keine Nachahmer. Wieder einmal, so schien es am Freitagnachmittag, war der politische Entfesselungskünstler (58) davongekommen. Daran änderte auch die strenge Aufforderung eines früheren Parteichefs nicht. Er habe sich seinen drei Nachfolgern gegenüber stets loyal verhalten, berichtete der begeisterte Brexit-Befürworter Michael Howard (80), aber nun müsse er doch für Johnsons Rücktritt plädieren: "Die Mitglieder des Kabinetts sollten sehr genau über ihre Position nachdenken."

Rücktritte wegen Sexskandalen

Was altgedienten Parteibaronen wie Howard oder dem Tory-treuen Magazin "Spectator" Angst einjagte, waren weniger die Mandatsverluste in der nordenglischen Postindustriestadt Wakefield sowie im lieblichen Bezirk von Tiverton and Honiton (Grafschaft Devon). Beide bisherigen Abgeordnete mussten wegen Sexskandalen zurücktreten, Wakefields Imran Ahmad Khan wanderte sogar wegen des Angriffs auf einen Minderjährigen ins Gefängnis. So etwas missbilligen die Wähler.

Hinzu kam die politische Großwetterlage: der unerbittlich steigende Benzinpreis, Lebensmittelteuerungen von mehr als zehn Prozent, ein Streik der Eisenbahner sowie nicht zuletzt der anhaltende Unmut über die Lockdown-Partys in der Downing Street.

Anti-Tory-Koalition

Weniger das Ergebnis der Wahlen schockierte viele Tories als vielmehr ein Menetekel: Sowohl in Wakefield wie vor allem in Devon zeigten sich die Konturen einer Anti-Tory-Koalition, wie es sie in den 1990er-Jahren schon einmal gegeben hatte. Damals wie heute müssen die Briten wegen des Mehrheitswahlrechts in vielen Bezirken ihre parteipolitische Priorität hintanstellen, um mit taktischem Wahlverhalten einen Wechsel zu erzwingen. Während sich in Wakefield die Johnson-Gegner hinter dem Labour-Kandidaten Simon Lightwood versammelten, katapultierten in Tiverton and Honiton frühere Labour-Wähler den Liberaldemokraten Richard Foord ins Unterhaus.

Es gebe den derzeitigen Umfragen zufolge in England einen "Linksblock von rund 60 Prozent", analysiert "Spectator"-Politikchef James Forsyth, bestehend aus Labour, Liberaldemokraten und Grünen. "Wenn die Wähler bei der nächsten Gesamtwahl taktisch abstimmen, wird das Resultat für die Tories absolut verheerend ausfallen."

Labour-Chef Keir Starmer mit Wahlsieger Simon Lightwood.
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Labour sieht sich auf Siegeskurs

Begreiflicherweise mochte es Oppositionsführer Keir Starmer nicht so sehen. Der erleichterte Labour-Chef fühlte sich in seinem moderaten Kurs in Abgrenzung zum stramm links positionierten Vorgänger Jeremy Corbyn bestätigt. Wenn im ganzen Land wie jetzt in Wakefield 13 Prozent der Wählerschaft von den Tories zu Labour überwechsle, "sind wir auf Kurs für einen eigenen Sieg", lautete die erkennbar von Wunschdenken geprägte Einschätzung des früheren Kronanwalts (59). An ein Pfeifen im Walde glauben einflussreiche Wahlanalysten wie Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Universität: "Labours Sieg und Vorsprung in den Meinungsumfragen ist keineswegs groß genug, um eine eigene Mandatsmehrheit zu gewinnen."

Der liberale Parteichef Edward Davey äußerte unverdrossen einen eigenen Wunsch. Fröhlich lachend ließ sich der Vorsitzende mit dem Wahlkreissieger Foord sowie vor einer blauen Tür fotografieren: Es sei Zeit, so der fröhliche Slogan, "Boris die Tür zu weisen". Dies aber können bis auf weiteres ausschließlich die konservativen Fraktionskollegen, allen voran das am Freitag nach Dowdens Demission bemerkenswert schweigsame Kabinett. Den einzig möglichen anderen Weg haben die Hinterbänkler der Fraktion schon zu Monatsbeginn beschritten: Die erzwungene Vertrauensabstimmung über den Vorsitzenden gewann Johnson knapp mit 59:41 Prozent, was ihn den geltenden Parteistatuten zufolge für ein Jahr lang unanfechtbar macht.

Liberalen-Chef Edward Davey ...
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... will "Boris die Tür weisen".
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Im Ausland sicher

Damals wie am Freitag von Kigali aus fasste der Premierminister seine Pläne in der Mitteilung zusammen, man müsse die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen und weitermachen. Zu Hilfe kommt Johnson die Gepflogenheit, dass eine Regierungspartei ihrem im Ausland weilenden Chef nicht in den Rücken fällt. Vom Commonwealth-Gipfel in Kigali will der 58-Jährige direkt zur Zusammenkunft der G7-Staatschefs und Parteichefs im bayerischen Schloss Elmau sowie zum Nato-Gipfel in Brüssel reisen. London wirkt auf den zerzausten Blondschopf einstweilen wenig einladend. (Sebastian Borger aus London, 24.6.2022)