Barbara Zemans Text "Sand" fand bei der Jury Anklang.

Foto: ORF/Johannes Puch

Dass alle Lesungen beim heurigen Bachmannpreis bisher bei bestem Wetter auf einer lauschigen Bühne im Garten vor dem ORF-Studio stattfinden konnten, mag die Autoren gefreut haben. Recht gelöst ging auch der Bewerb gleich los mit Hannes Stein, der am Donnerstag von einem Historiker erzählte, der nach einem an Cancel-Culture erinnernden Skandal einer Verschwörungstheorie anheimgefallen ist. Leon Engler stellte dem Publikum danach einen ironischen, neurotischen und mäßig erfolgreichen Schauspieler vor. Andreas Moster präsentierte einen alleinerziehenden Vater, der seine Karriere als Diskuswerfer nur schlecht mit der Babytochter vereinen kann und darüber in Familie-Karriere-Konflikte gerät, die man sonst vornehmlich aus Texten von Frauen kennt.

Stein und Moster stießen damit besonders bei Jurorin Vea Kaiser auf helle Freude. Stein, weil er etwas anderes als das übliche Selbstmitleid des einsamen Mannes biete. Dass der Aufbau einer paranoiden Gegenwelt an sich aber auch nicht unproblematisch ist, sei hier erwähnt. Moster gefiel, weil er zeige, dass auch Männer "verzichten" können, um Vater zu sein. So habe der Text "große politische Bedeutung". Gegen literarisches Mittelmaß richtet aber auch Gesellschaftspolitik nichts aus.

Gütekriterien

Wann also ist ein Text gut? "Natürlich muss ein Text Gewalt schildern können, sonst könnten wir sofort die Kamera abschalten und hier einen Safe Space einrichten", sprang Jurorin Mara Delius am Freitag für den genrehaften Gefängnistext von Behzad Karim Khani in die Bresche.

"Da muss halt das bequeme System der deutschen Wertung ein bisserl flexibel werden", verteidigte Klaus Kastberger dann das von manchen als "betulich" empfundenes Pathos im Beitrag des irakischstämmigen Usama Al Shahmani. Der Text war gespickt mit Erinnerungen an eine Kindheit im Irak, Spiele hatten in ihm ebenso Platz wie politischer Umbruch. Dass mit Diversität in der Literatur "auch Vielfalt in Wertungsfragen kommt", war nicht für alle in der Jury so klar.

Landhorror

Ob es für den Autor zu einem der am Sonntag vergebenen fünf Preise reichen wird, ist ungewiss. Viel Zuspruch erntete dagegen die aus Slowenien stammende und seit fast 20 Jahren in Niederösterreich lebende Ana Marwan für ihr Porträt einer einsamen Frau auf dem Land. Die Besuche des Briefträgers und Gärtners sind die Sensationen ihres Lebens, der Pool lockt vor allem Kröten an. Auch Mutterschaft wird kritisch dekonstruiert. Insgesamt überzeugte das mit feinem, treffendem Witz. Eva Sichelschmidts Text über eine Enkelin und ihre sterbende Großmutter hatte weniger Erfolg. Waren die Plattitüden darin "radikales Experiment" oder doch nur Floskeln?

Mutig experimentelle Texte fehlen weitgehend, mochte man Freitagnachmittag schon annehmen. Doch da kam Mara Genschel mit aufgeklebtem Bart und Fake-US-Akzent. Sie performte – und strapazierte damit die Kategorien des Bewerbs gründlich. Das amüsierte die Jury aber mehr, als es sie überzeugte. Insa Wilke hatte den Text ausgewählt, "weil er sich einer Botschaft verweigert – und damit der Erwartung, die seit Kriegsausbruch an Literaten gestellt wird".

Lyrische Favoriten

Nicht gerade zugänglich war Alexandru Bulucz "lyrische" Geschichte über einen Mann, der als Migrant die Heimat und damit ein sinnstiftendes Lebenszentrum verloren hat. Trotzdem wird er am Sonntag sicher unter den Preisträgern auftauchen.

Gute Chancen hat auch Barbara Zemans Reise eines Paares nach Venedig. Ein Myom in der Gebärmutter trübt neben Kummer in der Liebe die Stimmung. Der zarte, behutsame Ton kam bei der Jury als "aus der Mode gekommen" im besten Sinn an. Am Samstag schließen vier Lesungen, u. a. von Elias Hirschl, ab. (Michael Wurmitzer, 24.6.2022)