Kiew (Kyjiw)/Moskau/Sjewjerodonezk – Die Stadt Sjewjerodonezk in der Ostukraine ist nach Angaben ihres ukrainischen Bürgermeisters Olexander Strjuk vollständig von russischen Truppen besetzt. "Sie versuchen, ihre eigene Ordnung herzustellen. Soweit ich weiß, haben sie eine Art Kommandanten ernannt", sagt Strjuk im ukrainischen Fernsehen.

Die ukrainischen Truppen haben sich zu großen Teilen aus dem schwer umkämpften Sjewjerodonezk zurückgezogen. Sie hätten andere Stellungen bezogen, sagte Strjuk am Samstag der ukrainischen Nachrichtenseite 24tv zufolge. Zahlen und Details nannte er nicht. Die Truppen hätten die Chemiefabrik "Asot" verlassen. Dort hielten sich demnach noch Zivilisten auf.

Rückzug am Freitag angeordnet

Die ukrainische Armee hatte am Freitag ihren Rückzug aus der Stadt angeordnet. Das sollte einige Tage in Anspruch nehmen. Sjewjerodonezk zählte bisher zu den letzten Teilen des Gebietes Luhansk, die noch nicht von russischen und pro-russischen Kämpfern erobert waren.

Das ukrainische Militär bestätigte den Rückzug aus Sjewjerodonezk später. "Nach dem Rückzug von Einheiten unserer Truppen hat sich der Feind in Sjewjerodonezk festgesetzt", teilte der Generalstab am Samstagabend in Kiew mit. Dies sei auch in zwei Vororten der Fall sowie in Syrotyne, einem Dorf westlich von Metjolkine.

Das russische Verteidigungsministerium in Moskau vermeldete: Pro-russische Kämpfer der Volksrepublik Luhansk hätten mit Unterstützung russischer Truppen Sjewjerodonezk "vollständig befreit", sagte Sprecher Igor Konaschenkow der Staatsagentur TASS zufolge. Mit der Einnahme der Stadt sei "der Versuch des Feindes vereitelt worden, das Industriegebiet des Unternehmens Sjewjerodonezk "Asot" in ein Zentrum des Widerstands zu verwandeln". Das Industriegelände werde derzeit von Einheiten der Luhansker Separatisten kontrolliert, sagte Konaschenkow.

Selenskyj: Werden alle unsere Städte zurückbekommen

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj geht davon aus, alle Städte zurückzubekommen, die im Krieg an Russland verloren wurden. Als Beispiele nannte Selenskyj in seiner täglich-abendlichen Videobotschaft Sjewjerodonezk, Donezk und Luhansk. Die Ukraine sei in den vergangenen 24 Stunden von 45 russischen Raketen getroffen worden. Das Land befinde sich moralisch und emotional in einer schwierigen Phase des Krieges. Selenskyj weiter: Er wisse nicht, wie viele weitere Verluste es geben werde, bevor die Ukraine spüre, dass der Sieg näher komme.

Mindestens drei Tote bei Angriff in Sarny

Bei einem Raketenangriff auf die westukrainische Stadt Sarny sind nach Behördenangaben mindestens drei Menschen getötet worden. Vier weitere wurden verletzt ins Krankenhaus gebracht. Es seien eine Autowaschanlage und eine Werkstatt getroffen worden, teilte der zuständige Chef der Militärverwaltung am Samstagabend der Nachrichtenagentur UNIAN zufolge mit. Er machte Russland dafür verantwortlich. Das ließ sich nicht überprüfen.

Unter den Trümmern könnten noch weitere Opfer liegen. Von den russischen Angriffen ist seit Beginn des Krieges am 24. Februar überwiegend der Osten der Ukraine betroffen gewesen.

Erneut wurde auch die Region Charkiv am Samstag beschossen.
Foto: REUTERS/Leah Millis

Aus dem Norden meldete die Ukraine am Samstag Raketenangriffe nahe den Städten Schytomyr, Tschernihiw und Charkiw. Die russischen Streitkräfte hätten fast 30 Raketen auf eine militärische Infrastruktureinrichtung bei Schytomyr abgefeuert, teilte Gouverneur Witalij Bunetschko mit. Knapp zehn Raketen seien abgefangen und zerstört worden. Mindestens ein Soldat sei bei dem Angriff getötet worden.

In der Region Tschernihiw sei die Kleinstadt Desna unter massiven Raketenbeschuss geraten, teilte Gouverneur Wjatscheslaw Tschaus mit. Es habe keine Verletzten, aber Schäden an der Infrastruktur gegeben. In Desna befindet sich ein Ausbildungszentrum für die ukrainische Infanterie. Auch die Region Charkiw wurde nach Angaben des ukrainischen Generalstabs von Raketenangriffen getroffen.

Angriff auf Jaworiw

In der Westukraine wurden ukrainischen Angaben zufolge bei einem russischen Raketenangriff auf eine Militäranlage in Jaworiw vier Menschen verletzt. Die russischen Streitkräfte hätten sechs Raketen vom Schwarzen Meer aus abgefeuert, sagt der Gouverneur der Region Lwiw, Maxym Kosyzkyj, in einer Videobotschaft. Vier Raketen hätten den Stützpunkt getroffen, zwei seien von der ukrainischen Luftabwehr abgefangen und zerstört worden. Im März waren bei einem russischen Angriff auf ein Ausbildungslager des ukrainischen Militärs nahe Jaworiw nach Behördenangaben 35 Menschen getötet und mindestens 130 verletzt worden.

In der südukrainischen Stadt Mykolajiw und deren Umland schlugen nach Angaben von Bürgermeister Olexander Senkewytsch fünf russische Raketen ein. Die Zahl der Opfer werde noch geklärt, teilte er mit.

Russland hat den Angriffskrieg, den die Regierung in Moskau als "militärische Spezialoperation" bezeichnet, am 24. Februar begonnen. Anfangs rechneten viele Experten damit, dass die Ukraine nach wenigen Tagen besiegt sein würde. Doch schlugen die Ukrainer die russischen Truppen etwa vor den Toren der Hauptstadt Kiew zurück. Russland verstärkte seine Angriffe daraufhin auf den Osten des Landes, wo es trotz heftiger Verluste zuletzt immer mehr Gebiete einnehmen konnte. Westliche Wirtschaftssanktionen gegen Russland, russische Gaslieferbeschränkungen sowie die Blockade ukrainischer Getreideexporte lasten auf Volkswirtschaften weltweit. (APA, Reuters, 25.6.2022)