Die Drahtzieher hinter den Fake-Anrufen von Klitschko sind derzeit noch unbekannt.

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Eigentlich wollte Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) am Wochenende lieber über die Acts und die Stimmung auf dem Donauinselfest plaudern. Doch es kam anders. Noch am Samstag, direkt auf dem Festgelände, musste er vor laufenden Kameras über eine Peinlichkeit sondergleichen sprechen: Er hatte mit einem Witali Klitschko telefoniert, der gar keiner war.

Als ob das nicht genug wäre, tauchten weitere Fragen auf. Wurden sicherheitsrelevante Infos ausgetauscht? Und: Wen hat die Stadt über das Gespräch informiert? Das Außenministerium behauptete in einer ersten Stellungnahme, man habe von nichts gewusst. Das stimmt so aber nicht, stellte sich später heraus.

Wie kam das Telefonat, wie kam der Wirrwarr danach zustande? DER STANDARD rekonstruiert, was man weiß und was offengeblieben ist.

Schon Anfang Juni meldet sich Kiew bei Wien und bittet um ein Gespräch. Klitschko wolle sich für die großzügigen Hilfslieferungen bedanken, heißt es, in Wien denkt man sich nichts dabei.

Am 10. Juni wird ein Termin fixiert, spätestens da liegt eine entsprechende Mail bereits im Postfach des Botschafters in Kiew. Zumindest eine Nachricht, die Wien vermeintlich aus Kiew geschickt bekommen hatte, kommt von mayor.kyiv@ukr.net. Offizielle Mails aus Kiews Bürgermeisterbüro enden allerdings auf gov.ua, das kann man auf dessen Website nachlesen.

Offensichtlich macht das niemanden stutzig. In Wien beteuert man: Man habe schon öfter mit Leuten zu tun gehabt, deren Mailadresse auf ukr.net endet, auch mit Stadtvertretern. Auch in der Mail an die Botschaft war das ersichtlich. Alarm löste das dort nicht aus.

Niemand schöpft Verdacht

Am 22. Juni findet der Videocall also statt. Ludwig ist stolz, berichtet davon auf Twitter. Über die Lage in der Ukraine habe man gesprochen, twittert das Social-Media-Team, über Bildung und Integration. Klitschko ist sogar in dem Tweet markiert, merkt das aber nicht oder blickt darüber hinweg.

Dass der angebliche Klitschko irgendwie fordernd aufgetreten ist und dass er eigenartigerweise Englisch sprechen wollte, obwohl der echte Klitschko fließend Deutsch spricht, findet noch keine Erwähnung.

Am Freitagabend kommen dann beunruhigende Nachrichten aus Deutschland: Die Berliner Bürgermeisterin hat ein Telefonat mit einem vermeintlichen Klitschko abgebrochen. Der habe komische Dinge gesagt: dass man Geflüchtete in die Ukraine zurückschicken solle, ob man helfen könne, einen Christopher Street Day auszurichten.

Nächtliche Nervosität

Die Senatskanzlei geht von einem Deepfake aus, also einer digitalen Manipulation, bei der eine Person konstruiert wird, die täuschend echt wirkt. Noch in der Nacht auf Samstag wird man im Wiener Bürgermeisterbüro nervös. Könnte es sein, dass Ludwig dasselbe passiert ist? Auch der Botschafter wird erneut kontaktiert, noch Samstagvormittag steht für Außenamt und Bürgermeister fest: Ludwig wurde – Pardon – verarscht.

Später veröffentlichte der deutsche "Bild"-Journalist Paul Ronzheimer, gut bekannt mit Klitschko, ein Statement von diesem: Auch der sagt, er habe nicht mit Ludwig gesprochen. Für den Bürgermeister ist das zu dem Zeitpunkt keine Überraschung mehr, doch nun stürzen sich auch die österreichischen Medien auf die Geschichte. Von Ludwig kommt lange nichts. Er ist auf der Insel.

Derweil schreibt das Außenministerium längst an einer Stellungnahme, die auch an den STANDARD geht. Darin heißt es, man sei vorab nicht über das Gespräch informiert worden. Und im Subtext: Wäre man eingeweiht gewesen, wäre das vielleicht nicht passiert. Auch der Verfassungsschutz wusste vorab nicht Bescheid, hinter den Kulissen sieht man das dort aber nicht als besonders dramatisch an.

Ministerium rudert zurück

Nur, aus dem Bürgermeisterbüro, das sich mittlerweile auch zu Wort meldet, heißt es mit Nachdruck: Doch, man habe sehr wohl die Botschaft involviert. Schnell werden Spekulationen laut, das ÖVP-geführte Außenministerium wolle dem roten Wien eins auswischen. Am Abend kommt ein Update des Ministeriums, man wusste doch vorab Bescheid, heißt es nun. Folgende Erklärung macht die Runde: Der Botschafter habe sich Samstagmorgen schlicht falsch erinnert. Die Nachricht Wiens über das anstehende Gespräch sei eher eine beiläufige Info gewesen. Doch nachdem der Botschafter noch einmal gründlich sein Postfach durchsucht habe, sei sie aufgetaucht.

Aber: Mit wem hat Ludwig tatsächlich gesprochen, wer steckt hinter alledem? Hinter vorgehaltener Hand werden allerhand Theorien in den Raum gestellt, da werden die Russen genannt, aber auch innenpolitische Gegner in der Ukraine. Immer wieder fällt auch der Name Jan Böhmermann – allerdings stellvertretend für eine Scherzaktion oder ein Satire- oder Investigativprojekt.

Der Staatsschutz und das Innenministerium rufen jedenfalls am Sonntag öffentlich das Bürgermeisterbüro dazu auf, Detailinfos zu schicken, damit all das aufgeklärt werden kann. Wien will kooperieren, heißt es. Und das Außenamt betont noch einmal: Man bitte, solche Termine künftig über die Botschaft zu koordinieren.

Wer auch immer es war, bei Ludwig glaubt man nicht, dass man ihm, ihr oder ihnen Geheiminfos gegeben hat. Eigentlich, so wird das nun dargestellt, sei das Gespräch eher belanglos gewesen. Ob der Anruf in Wien durch Deepfake manipuliert wurde oder womöglich doch ein Schauspieler gesprochen hat, ist momentan unklar. Vieles spricht aber für Ersteres, sagen damit Befasste.

Naheliegend ist, dass Wien und Berlin, genauso wie Madrid übrigens, von denselben Drahtziehern getäuscht wurden. Zumindest an Madrid kam die Einladung von derselben dubiosen Mailadresse. Nur: Warum sprach "Klitschko" dann mit Berlin Russisch und mit Wien Englisch? (Gabriele Scherndl, 26.6.2022)