Jens Stoltenberg will deutlich mehr Truppen schnell einsetzen können.

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Beim G7-Gipfel in Bayern kann sich die Polizei nun langsam etwas entspannen – in Madrid nehmen ihre Kolleginnen und Kollegen die Arbeit auf. Denn ein Sicherheitsaufgebot, wie es für den am Dienstag beginnenden Nato-Gipfel vorgesehen war, gab es seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Schließlich geht es auch um viel: Das Bündnis will die Strategie für das nächste Jahrzehnt beraten.

Einen Überblick, wohin es dabei gehen soll, gab Generalsekretär Jens Stoltenberg bereits am Montag. Die Allianz will dabei richtig klotzen. 300.000 Soldatinnen und Soldaten sollen künftig der schnellen Eingreiftruppe (Nato Response Force, kurz: NRF) angehören, kündigte er in einer Pressekonferenz an. Das wäre mehr als eine Versiebenfachung: Bisher sind rund 40.000 Personen in den schnellen Eingreiftruppen eingestellt. Als Teil des vorgesehenen Zehnjahresplans soll Russland als "wichtigste und direkteste Bedrohung" bezeichnet werden.

China soll erstmals vorkommen und dort als "Herausforderung für die Zukunft" aufscheinen. Diplomaten zufolge wird aber noch an den Formulierungen gefeilt. Während die USA und Großbritannien auf eine eher härtere Sprache dringen, setzen sich demnach Deutschland und Frankreich für einen ausgewogeneren Ansatz ein.

Neues Streitkräftemodell

Der geplante Truppenumbau ist Teil eines neuen Streitkräftemodells für das gesamte Bündnisgebiet. Dieses sieht mehr Kräfte in hoher Bereitschaft vor. Zudem sollen sie auch bestimmten Gebieten zugeordnet werden. Damit könnten etwa deutsche Soldaten fest dafür eingeplant werden, litauische Truppen im Fall eines russischen Angriffs zu unterstützen. Die Truppen sollen in Friedenszeiten in der Regel unter nationalem Kommando stehen, könnten dann aber im Ernstfall vom Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte in Europa (SACEUR) angefordert werden.

Für die Truppen würden zudem feste Zeiten für die Einsatzbereitschaft vorgegeben. Im Gespräch ist, dass manche Einheiten innerhalb von höchstens 10 Tagen verlegebereit sein müssten, andere in 30 oder 50 Tagen. Details für den Ernstfall sollen in neuen regionalen Verteidigungsplänen festgelegt werden, die im kommenden Jahr fertig sein sollen.

Neue Schlachtfelder

Die Straßen rund um die Hotels in Madrid, in denen die teilnehmenden Staats- und Regierungschefs absteigen werden, waren am Montag bereits abgeriegelt. Insgesamt kommen 40 Delegationen – 30 aus den Mitgliedsstaaten, der Rest Beobachter. Lange wurde spekuliert, ob auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj anreisen würde, er wird nun aber per Videoschaltung reden.

Bei der zur Debatte stehenden Nato-Strategie für das kommende Jahrzehnt geht es nicht nur um militärische Bedrohungsszenarien. Das neue Konzept, das jenes vom Jahr 2010 aus der portugiesischen Hauptstadt Lissabon ablösen wird, nimmt erstmals auch den Klimawandel und seine Folgen als Gefahr auf. Auch von Cyberangriffen, Desinformationskampagnen und den hybriden Kriegen – also jenen, die nicht nur am Schlachtfeld, sondern auch in Medien, im Netz und dem Informationsraum spielen, und solchen, deren Akteure nicht klar gekennzeichnet sind – ist die Rede.

Im Vordergrund steht aber natürlich die Ukraine. Zum einen geht es darum, die Nato zu erweitern. Schweden und Finnland wollen dem Bündnis ja beitreten, die Türkei stemmt sich weiter via Veto dagegen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan wirft ihnen vor, "Terroristen" zu unterstützen, und meint damit die Kurden, die vor politischer Verfolgung Zuflucht gefunden haben.

Hohe Ausgaben

Zum anderen geht es um die Frage, inwieweit die Nato ihrer militärische Präsenz im Osten verstärkt. Für Stoltenberg hat der Schutz der Ostflanke oberste Priorität. Deswegen sollen auch die existierenden multinationalen Nato-Gefechtsverbände in den Mitgliedstaaten an der Ostflanke auf Brigade-Niveau ausgebaut werden. Derzeit umfasst beispielsweise der in Litauen 1.600 Soldaten. Eine Brigade besteht in der Regel aus etwa 3.000 bis 5.000 Soldaten. Nicht alle Länder in Westeuropa sehen aber diesen Bedarf im Osten. Denn dies würde die Militärausgaben weiter in die Höhe treiben.

Auch beim Gastgeber Spanien sorgt die Nato für Diskussionen. Während der sozialistische Premier Pedro Sánchez für eine Erhöhung des Militärhaushalts ist, lehnt der linksalternative Koalitionspartner Unidas Podemos (UP) sie ab. Es würden "Milliarden öffentlicher Gelder ausgegeben, um mehr Waffen von den großen Kriegskonzernen zu kaufen", teilt die Partei mit.

Die Regierungspartei nahm deshalb am Gegengipfel und an Protesten am Sonntag teil. Es kamen laut Polizei nur 2.200, laut dem Veranstalter 30.000 Teilnehmende. Auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) wird in Madrid erwartet, wo er am Mittwoch Erdoğan treffen soll. (Reiner Wandler aus Madrid, Manuel Escher, ag, APA, Reuters, 27.6.2022)