Die Einmalzahlungen der Regierung sind laut Anzengruber wichtig und richtig. Insgesamt werde das Geld aber wohl nicht reichen.

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Die Telefone in der Sozialberatung der Caritas Wien laufen heiß. Schon seit der Pandemie haben die Anfragen zugenommen, heuer ist der Bedarf an Unterstützung noch einmal um 30 Prozent gestiegen, erzählt Doris Anzengruber, Leiterin der Beratungsstelle. Die Teuerung sei mittlerweile voll bei den Menschen angekommen.

STANDARD: Frau Anzengruber, Sie bearbeiten jede Woche zig Fälle. Welche sind Ihnen zuletzt besonders in Erinnerung geblieben?

Anzengruber: Am Mittwoch habe ich mit einer Pensionistin gesprochen, die noch sechs Euro am Konto und zwölf Euro im Geldbörsel hat. Sie bezahlt jetzt 139 Euro pro Monat mehr für Heizung und Strom. Früher hat sie sich an heißen Sommertagen ab und zu einen Eiskaffee gegönnt. Das ist jetzt nicht mehr drin. Ähnlich geht es einer alleinerziehenden Mutter und ihrem neunjährigen Sohn. Sie haben für Strom und Gas bisher 117 Euro monatlich bezahlt. Seit kurzem sind es 240 Euro. Bei der Jahresabrechnung stellte der Energieversorger eine Nachzahlung von 600 Euro in Rechnung. Jetzt ist sie mit den erhöhten Teilbeträgen wieder im Rückstand.

STANDARD: Mindestpensionistinnen und Alleinerzieher sind seit jeher besonders armutsgefährdet. Spiegelt sich das auch in der aktuellen Krise wider?

Anzengruber: Die Gruppen, die Sie ansprechen, sind nach wie vor stark betroffen, es kommen aber weitere dazu. Menschen, die Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe beziehen, brauchen jetzt vermehrt finanzielle Unterstützung. Dasselbe gilt für alleinstehende Personen. Vor kurzem habe ich mit einem Mann telefoniert, der 900 Euro Arbeitslosengeld bekommt und sich geringfügig etwas dazuverdient. Sein Energielieferant hat ihm kürzlich den Vertrag gekündigt. Beim neuen Anbieter bezahlt er 290 Euro für Strom und Gas pro Monat. Das kann er sich schlicht nicht mehr leisten.

STANDARD: Die Teuerung wird wohl nicht so schnell abflauen, die Energiekosten dürften weiter steigen. Steht uns die große Welle erst bevor?

Anzengruber: Ich glaube, dass das nächste Jahr für viele sehr hart werden wird. Noch mehr Menschen werden sich bei uns melden und um Hilfe bitten. Viele Nachzahlungen werden erst nächstes Jahr fällig. Da kommt noch einiges auf uns zu.

Doris Anzengruber ist Leiterin der Caritas-Sozialberatung in Wien, die Menschen in sozialen und finanziellen Notlagen unterstützt. Im ersten Halbjahr 2022 hat die Beratungsstelle 4.750 Fälle betreut.
Foto: Caritas der Erzdiözese Wien

STANDARD: Wozu raten Sie Menschen, die sich ihr Leben schlichtweg nicht mehr finanzieren können?

Anzengruber: Wer bei uns anfragt, bekommt eine gute Übersicht über mögliche Ansprüche und Unterstützungsleistungen. Je früher man sich damit auseinandersetzt, desto besser. Und wir schauen natürlich, wo man am ehesten einsparen könnte. In der Praxis versuchen das viele Menschen lange allein.

STANDARD: Wo gibt es denn noch Einsparungspotenzial?

Anzengruber: Das ist natürlich oft eine Herausforderung. Wichtig ist, immer zu wissen, was und wie viel ich wofür ausgebe. Und zu schauen, ob es abseits der Fixkosten Ausgaben gibt, die nicht unbedingt notwendig sind. Wir haben aber Klientinnen und Klienten, die zu Recht fragen, wo sie noch sparen sollen. Am Freitag hatte ich eine Mutter bei mir, die zwar endlich wieder einen Job hat, jetzt aber 200 Euro für die Ferienbetreuung ihrer Tochter braucht. Eine andere kann sich den Hort nicht mehr leisten, weil sie mehr Geld für Energie und Lebensmittel ausgibt. In so einer Situation noch über Einsparungen zu sprechen, ist schwer bis unmöglich. Ein Pensionist hat mir kürzlich erzählt, dass er Ende des Monats nur noch Haferflockensuppe isst.

STANDARD: Die Regierung wird den Menschen mit dem aktuellen Milliardenpaket unter die Arme greifen. Aber reicht es aus Ihrer Sicht?

Anzengruber: Die Einmalzahlungen sind wichtig und richtig. Viele Menschen werden das Geld aber sofort verbrauchen müssen. Und wenn ich mir Beispiele aus der Praxis ansehe, dann wird das Paket insgesamt nicht ausreichen, das ist einfache Mathematik. Die Maßnahmen sind natürlich eine Abmilderung, aber keine Abfederung. Auch die Indexierung der Sozialleistungen ist richtig. Bis sich die Erhöhung niederschlägt, wird allerdings noch viel Zeit vergehen. Bei vielen Menschen geht es jetzt ans Eingemachte.

STANDARD: Was braucht es noch aus Ihrer Sicht?

Anzengruber: Wichtig wäre eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes. Das wird in der Beratung deutlich. Viele Menschen, die ihre Arbeit verlieren, können ihre Fixkosten schlicht nicht mehr bestreiten. Die aktuell 55 Prozent des letzten Gehalts sind dafür zu wenig. (Jakob Pflügl, 28.6.2022)