Im Gastblog widmet sich der Autor Christian Kreil der Frage nach der aphrodisierenden Wirkung von Neradin und erklärt, welche Faktoren es ermöglichen, selbiges als Arzneimittel zu verkaufen.

Neradin

Der symphatische Mann mit graumeliertem Haar in den besten Jahren hat seine Erektionsstörungen in den Griff bekommen - mit Neradin. Zumindest in der Werbung, die auch zur Primetime im Fernsehen lief. Werbung darf viel, und dazu gehört auch die Anmerkung, dass "Neradin die Durchblutung der Geschlechtsorgane fördert". Dieser Werbespot wurde soeben vom Youtube-Kanal des Anbieters entfernt, zu finden ist dort ein neuer (siehe oben). Und Werbung darf auch die Tatsache hintanstellen, dass Neradin ein homöopathisches Produkt ist. Nur wer ganz genau hinsieht im Werbespot, erkennt den Aufdruck auf der abgebildeten Schachtel: "Homöopathische Arzneispezialität." Sie wissen schon: So etwas sieht sich die Stiftung Gurutest gerne etwas genauer an. 

Nach homöopathischer Logik: Neradin sediert sexuell

Als Wirkstoff von Neradin gibt der Beipacktext "Turnera diffusa Trit. D4" an. Turnera diffusa ist eine in Südamerika beheimatete Pflanze. Sie ist als Damiana bekannt und ihr wird nachgesagt, eine aphrodisierende und aufputschende Wirkung zu besitzen. Das ziehen wir gar nicht in Zweifel, doch als Freunde und Freundinnen der homöopathischen Lehre wissen wir: Um das Simile-Prinzip kommen wir nicht so leicht herum.

Das Ähnlichkeitsprinzip sagt: Ein homöopathisches Mittel wirkt beim Kranken just gegen jene Symptome, die diese Substanz beim Gesunden hervorruft. Ein Beispiel: Zur Linderung der Symptome von Bienenstichen verschreibt die Homöopathie das fein verdünnte Gift der Bienen, das die Beschwerden erst hervorruft. Für den Neradin-Wirkstoff Damiana hieße das: Wenn diese Pflanze in stofflicher Quantität - und darauf beruft man sich - aphrodisierend und aufputschend wirkt, dann müsste sie in hömöopathischer Dosis und gemäß homöopathischer Logik sexuell sedierend wirken. Das ist vermutlich nicht ganz das, was sich der Neradin-Kunde erwartet und wünscht. Doch wir wollen nicht vorschnell urteilen.   

Ein Hauch des Wirkstoff oder doch nur homöopathischer Zauber?

Ehe wir schnippisch werden, gehen wir ins Detail: Die Inhaltsangabe "100 mg Tumera diffusa Trit. D4" lässt ein stoffliches Hintertürchen offen. D4 ist in der Welt der Homöopathie eine geradezu lächerliche Tiefpotenz. Bei derartigen Verdünnungen ist - im Gegensatz zu Hochpotenzen - die Ausgangssubstanz im Medikament analytisch noch nachweisbar. Rechnen wir die Dosierung laienhaft hoch, bedeutet die Verdünnung D4: 0,01 mg Wirkstoff pro Tablette. Der Haken ist die Angabe "Trit." im Beipacktext. Damit ist Trituration gemeint, in der Homöopathie beschreibt man damit die Verreibung von unlöslichen Substanzen in Milchzucker.

Udo Endruscheit, Sprecher des Informationsnetzwerks Homöopathie, verweist darauf, dass die Homöopathie in ihrem hochoffiziellen Homöopathischen Arzneibuch für die Verreibung pflanzlicher Ausgangsstoffe gar keine Verfahrensregeln kennt. Diese Regeln gibt es nur für die Verreibung von unlöslichen Feststoffen und Flüssigkeiten. Endruscheit: "Unser Wundermittel hier entzieht sich jeglicher Quantifizierung. Kein Mensch kann wirklich sagen, welche Menge Wirkstoff in den triturierten Tabletten enthalten ist. Die Qualität und Quantität des pflanzlichen Ausgangsstoffs schwankt zwangsläufig, eine Standardisierung spielt in der Homöopathie – anders als in der Pharmazie oder auch der Phytotherapie – überhaupt keine Rolle. Wurde die "ganze Pflanze“ verwendet? Nur die Blätter? Oder anderes? Wir wissen es nicht. Die Homöopathie kümmert sich schlichtweg nicht um eine Quantifizierung der Substanz – dafür umso mehr um die magischen Rituale bei der Verdünnung.“

Was sagen Apotheker zu Neradin? Spoiler: nicht viel!

Wir befolgen den abschließenden Rat jeder Werbung zu Arzneispezialitäten und fragen unseren Apotheker oder unsere Apothekerin zur Wirkung und zum Inhalt von Neradin. Ich zeige ein paar mir bekannten Pharmezeuten und Pharmazeutinnen den Beipacktext und frage, wie viel von der Wunderpflanze Damian nun wirklich in einer Tablette ist drinnen ist und was Mann sich erwarten darf ? Eine Apothekerin, die der Homöopathie durchaus offen gegenübersteht, antwortet: Triturationen seien sehr unklar definiert, was an Wirkstoff drinnen ist, bliebe unklar. Apotheker Nummer zwei meint: "Da ist sicher nicht viel Wirkstoff drinnen, der gute Mann, der das kauft, muss auf den Plazeboeffekt hoffen." Apotheker Nummer drei antwortet: "Es ist gescheiter, der Mann trinkt mit seiner Frau ein Glaserl Prosecco, da ist mehr Aphrodisiakum drinnen als in Neradin." Wie viel Wirkstoff in einer Tablette drinnen ist, diese Frage kann oder will offenbar kein Pharmazeut oder Pharmazeutin auf die Schnelle beantworten. 

PharmaSGP: Ein Unternehmen mit viel Marketing-Expertise

Wenn uns der Schmiedl nicht helfen kann, gehen wir zum Schmied. Neradin ist ein Produkt von PhamaSGP. Das börsennotierte Unternehmen mit 65 Millionen Euro Jahresumsatz hat den Fokus auf "apothekenexklusive Produkte" und "nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel und andere Gesundheitsprodukte." Ich ersuche das Unternehmen um eine konkrete Angabe zur Quantität des Inhaltsstoffs von Neradin. Die Pharmazeuten des Herstellers sollten das doch recht flott beantworten können. Doch die PharmaSGP bleibt zunächst stumm.

Die CEO des Unternehmens hat einen Bachelor in Europäischer Betriebswirtschaft und sich einen Namen als Markenmanagerin bei Johnson & Johnson gemacht. Der CFO ist Betriebswirt und verweist in seinem Curriculum auf das Investment- und Portfoliomanagement für digitale Beteiligungen der Media-Saturn-Gruppe. Hinweise auf medizinische oder pharmazeutische Expertise im Unternehmen macht PharmaSGP erst gar nicht. Gut 20 offene Jobs bietet das Unternehmen im Bereich Brand-Management, PR-Redaktion bis hin zu Volljuristen und Volljuristinnen. Ausschreibungen für Stellen im Berufsfeld der Pharmazie oder Medizin findet man bei PharmaSGP nicht.

Der Hersteller setzt auf "Parapharmazie"

Das alles ist natürlich legitim. In der Präsentation zur Jahreshauptversammlung 2022 verrät PharmaSGP, dass der gesamte Herstellungsprozess für Arzneimittel an Dritthersteller ausgelagert ist. Ganz unten im Beipackzettel von Neradin finden wir den Hinweis auf den Hersteller: Die Gustav Klein GmbH aus dem Schwarzwald. Dieses Unternehmen ist auf "Naturarznei aus dem Schwarzwald" spezialisiert. Der Schwarzwald ist nicht ganz das Biotop der amerikanischen Neradin-Heilpflanze Damiana, aber wir wollen hier nicht auf pflanzengeographische Finessen pochen. Das Unternehmen wird schon wissen, wo es Blumen pflücken muss.

Die Gustav Klein GmbH ist Mitglied der Alpen Pharma Group, die sich unter anderem auf "parapharmazeutische" Produkte spezialisiert hat. Das Wort "parapharmazeutisch" ist wunderschön, das werden wir uns merken. Ich frage auch beim Hersteller von Neradin nach. Wie viel Wirkstoff ist nun drinnen in Neradin? Der Hersteller sollte das doch wissen. Gustav Klein schickt mich zurück an den Start. Die Anfrage werde an den Zulassungsinhaber PharmaSGP weitergeleitet. Von dort kommt nach wiederholter Nachfrage eine Antwort: "Nach Rücksprache mit der Geschäftsleitung dürfen wir Ihnen ausrichten, dass wir Ihnen an dieser Stelle nicht weiterhelfen können." Das Unternehmen berichtet seinen Shareholdern stolz von soeben getätigten Markenankäufen und Markterfolgen, Anfragen zu den vermarkteten Medizinen und Wirkstoffen sind offenbar eher lästig.   

Zulassung homöopathischer Arzneimittel: eine Posse

Eine Frage drängt sich auf: Warum ist ein Arzneimittel, von dem niemand sagen kann oder will, was darin tatsächlich enthalten ist, zugelassen? Die Antwort liegt im so genannten Binnenkonsens, einem Privileg, das der Homöopathie vom Gesetzgeber eingeräumt wird – und das eine „Zulassung“ nach homöopathieinternem Gusto möglich macht. Endruscheit: „Neradin muss weder seine Wirksamkeit nach üblichen wissenschaftlichen Standards belegen noch einen Wirkstoff nach pharmazeutischen Qualitätskriterien nachweisen, um den Status als 'Arzneimittel' zu erlangen. Dem Gesetzgeber reicht – um es pointiert zu formulieren – eine Übereinkunft einer rein homöopathischen Arzneimittelkommission, die von der Wirkung auf Basis ihrer eigenen kruden Theorien überzeugt ist.“

Fassen wir es so zusammen: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die homöopathische Arzneispezialität Neradin die Durchblutung der Geschlechtsorgane fördert. Sicher ist indes, dass „parapharmazeutische“ Produkte den Blutdruck von Leuten, die eins und eins zusammenzählen können, in die Höhe schnellen lassen. (Christian Kreil, 5.7.2022)

Christian Kreil bloggt seit drei Jahren rund um Esoterik, Verschwörungsplauderei und Pseudomedizin. Im Vorjahr erschien sein Buch "Fakemedizin".

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