Der Sitzungssaal im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Eine Entscheidung des EGMR verhinderte, dass ein Abschiebeflug aus Großbritannien nach Ruanda abhob.

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stoppte kürzlich einen umstrittenen Abschiebeflug von Großbritannien nach Ruanda. Als Reaktion darauf will die britische Regierung nun ein Gesetz verabschieden, das vorsieht, künftig nicht mehr an Entscheidungen des EGMR gebunden zu sein. Aber geht das so einfach? Und warum muss sich Großbritannien überhaupt an Entscheidungen des EGMR halten? Die wichtigsten Fragen und Antworten, zusammengefasst.

Frage: Worum geht es in dem Streit?

Antwort: Die britische Regierung hat eine Vereinbarung mit dem ostafrikanischen Staat Ruanda getroffen, die vorsieht, dass illegal in Großbritannien angekommene Menschen nach Ruanda geflogen werden und künftig dort – und nicht mehr in Großbritannien – Asyl beantragen können. Im Gegenzug erklärte sich Großbritannien zur Zahlung von fast 150 Millionen Euro bereit. Zahlreiche Stimmen kritisierten, die Abmachung verstoße gegen internationales Recht, da eine Abschiebung nach Ruanda aufgrund der dortigen Menschenrechtssituation nicht sicher sei. Der erste Abschiebeflug war für 14. Juni geplant. Die Maschine hob aber aufgrund einer Intervention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte letztlich nicht ab.

Frage: Wie verhinderte der EGMR den Abschiebeflug?

Antwort: Die Maschine hätte am späten Abend des 14. Juni mit acht Personen an Bord starten sollen. Kurz zuvor bestätigte der Oberste Gerichtshof in London die Rechtmäßigkeit der Abschiebungen. Er erteilte damit aufschiebenden Maßnahmen eine Absage, noch anhängige Verfahren stünden einer Abschiebung nicht entgegen. Einer der Asylwerber hatte gegen diese Entscheidung Beschwerde beim EGMR erhoben. Der EGMR erteilte überraschend noch am Tag des geplanten Abschiebeflugs eine einstweilige Verfügung, die anordnete, dass der Asylwerber vorerst nicht ausgeflogen werden dürfe. Vielmehr müsse zunächst eine Frist von drei Wochen nach dem Abschluss des Rechtswegs in Großbritannien verstreichen. Im Lauf desselben Tages erhoben fünf weitere Personen, die mit demselben Flug nach Ruanda abgeschoben werden sollten, beim EGMR Anträge auf einstweilige Maßnahmen zur Aussetzung ihrer Abschiebung. Zwei davon wurde stattgegeben. Die Maschine startete letztlich nicht.

Frage: Was ist eine einstweilige Verfügung des EGMR?

Antwort: Gemäß Artikel 39 der Verfahrensordnung des EGMR kann der Gerichtshof vorläufige Maßnahmen anordnen, die im Interesse der Parteien oder im Interesse eines ordentlichen Verfahrensablaufs ergriffen werden sollten. Solchen Anträgen gibt das Gericht nur in Ausnahmefällen statt, nämlich dann, wenn den Antragstellern sonst ein echter, nicht wiedergutzumachender Schaden droht.

Frage: Kann man dabei von einer "seltenen Intervention" sprechen?

Antwort: Einstweilige Verfügungen des EGMR sind tatsächlich eher selten, sagt Astrid Reisinger Coracini, Expertin für Völkerrecht an der Universität Wien, dem STANDARD. "Sie werden nur in Ausnahmefällen ergriffen. Abschiebungs- und Auslieferungsfälle stellen dabei den häufigsten Anwendungsfall dar", erklärt sie.

Frage: Warum muss sich Großbritannien überhaupt an die Entscheidungen des EGMR halten?

Antwort: Die Entscheidungen des EGMR sind für die Mitgliedsstaaten des Europarats, die den Gerichtshof zur Sicherstellung der Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gegründet haben, bindend. Der Brexit ändert für Großbritannien daran nichts, denn Großbritannien ist weiterhin Mitglied des Europarats und hat 1998 die EMRK ins britische Recht übernommen. Die sich daraus ergebenden Verpflichtungen bestehen unabhängig vom Brexit fort.

Frage: Was, wenn sich ein Staat nicht an Entscheidungen des EGMR hält?

Antwort: "Dann begeht der Staat einen Völkerrechtsbruch", sagt Reisinger Coracini. Sanktionsmaßnahmen gegen einen Staat gebe es in einem solchen Fall zwar nicht, aber man dürfe nicht unterschätzen, welche Bedeutung ein solcher Völkerrechtsbruch für die Reputation eines Staates im zwischenstaatlichen Verkehr habe. "Staaten sind daher sehr bemüht, die Feststellung eines Völkerrechtsbruchs zu vermeiden." Bei schweren Verfehlungen kann einem Staat zudem das Stimmrecht entzogen oder dieser aus dem Europarat ausgeschlossen werden.

Frage: Wie reagierte Großbritannien?

Antwort: Großbritannien zeigte sich von der einstweiligen Verfügung zunächst unbeeindruckt und bekräftigte, es wolle an dem Plan festhalten und in Kürze weitere Abschiebeflüge nach Ruanda durchführen. Bei der Sitzung im Parlament vergangenen Mittwoch wurde nun als Reaktion auf diese Entscheidung des EGMR ein Gesetzesentwurf vorgestellt, der sicherstellen soll, dass der britische Supreme Court in Menschenrechtsfragen künftig das letzte Wort hat. Außerdem soll das Gesetz dafür sorgen, dass einstweilige Verfügungen des EGMR in Großbritannien nicht mehr bindend sind.

Frage: Kann Großbritannien das im Alleingang festlegen?

Antwort: "Kann es schon, aber völkerrechtlich wäre dies wirkungslos. Solange Großbritannien nicht aus dem Europarat austritt, ändert sich nichts an seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen. Einem Urteil des EGMR wäre weiterhin Folge zu leisten", sagt Reisinger Coracini. Ob dieses Gesetz die Vorstufe für einen Austritt aus dem Europarat ist – erst im März dieses Jahres erfolgte der Austritt Russlands –, könne man derzeit nicht sagen. Jüngsten Berichten zufolge lehnt die britische Regierung einen Ausstieg bis dato ab.

Frage: Müsste Großbritannien auch die EMRK "aufkündigen", um nicht mehr an die Urteile des EGMR gebunden zu sein?

Antwort: Wenn ein Staat aus dem Europarat austritt, verlässt er damit auch die EMRK. Denn nur Europarat-Mitglieder können EMRK-Vertragsparteien sein. Das umgekehrte Beispiel, ein Austritt aus der EMRK bei gleichzeitigem Verbleib im Europarat, wäre theoretisch möglich. Bisher gab es so einen Fall jedoch nicht, denn in der Praxis sind alle Mitglieder des Europarats auch Mitglieder der EMRK, sagt Reisinger Coracini. (Viktoria Kirner, 28.6.2022)