Dass er vier Jahre lang für die umstrittene Gruppe Wagner arbeitete, bereut Marat Gabidullin nicht. Überhaupt, sagt er, sollte man nicht aufgrund der Gräueltaten Einzelner auf alle Söldner schließen.

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Wo immer Russlands geopolitische Interessen durchgesetzt werden sollen, ist ein Name nicht weit: Gruppe Wagner. Seit 2014 taucht das Söldnerunternehmen dort auf, wo Moskau Einfluss gewinnen will. Erstmals trat es 2014 in der Ukraine in Erscheinung, wo die Söldner bei der Annexion der Krim maßgeblich mitgewirkt haben sollen. Seitdem unterstützten sie im syrischen Bürgerkrieg den Verbündeten Russlands Bashar al-Assad, sie kämpfen in Mali und Zentralafrika auf der Seite der Herrschenden und sind nun auch im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Einsatz.

Wo die Gruppe Wagner im Einsatz ist, zieht sie eine Spur der Verwüstung nach sich: Den Söldnern werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen vorgeworfen. In Syrien sollen sie einen Deserteur gefoltert, enthauptet und verbrannt und das Ganze auf Video aufgenommen haben. In Zentralafrika werden sie verdächtigt, drei russische Journalisten getötet zu haben, die zu ihnen recherchiert haben. Und laut dem deutschen Bundesnachrichtendienst sollen Wagner-Söldner auch an dem Massaker in der ukrainischen Stadt Butscha beteiligt gewesen sein.

Der russische Präsident Wladimir Putin leugnet jegliche Verbindung zu den Söldnern und sogar die Existenz der Gruppe Wagner, schließlich sind Söldner in Russland offiziell verboten. Der mutmaßliche Finanzier der Gruppe, Jewgeni Prigoschin, ist jedoch enger Vertrauter des Präsidenten, und die Einsätze der Söldner sind so stark mit den Interessen des Kreml verquickt, dass die Gruppe Wagner als "Putins Privatarmee" bezeichnet wurde.

STANDARD: Die Gruppe Wagner wird von Experten und Medien unterschiedlich beurteilt. Manche sagen, es handle sich um eine Söldnertruppe, andere bezeichnen sie als Putins persönliche Privatarmee. Wie würden Sie die Gruppe charakterisieren?

Gabidullin: Die Gruppe Wagner ist eine paramilitärische Organisation mit einer klaren, aber flexiblen Struktur. Sie erfüllt konkrete, oftmals militärische Aufgaben. Die Organisation ist schwer bewaffnet: Sie verfügt über Artillerie und schweres Gerät wie Panzer, deren Einsatz hängt von den gestellten Aufgaben, der Region und dem kriegerischen Geschehen vor Ort ab. Anhand dieser Faktoren können die gut ausgestatteten Einheiten schnell umformiert und angepasst werden.

STANDARD: Wie kam es dazu, dass Sie sich der Gruppe Wagner angeschlossen haben? Andere Söldner erzählen in Interviews, dass sie vor allem das Geld gelockt hat.

Gabidullin: Ich bin 2015 zur Gruppe Wagner gekommen, in der schwierigsten Phase meines Lebens. Ich war depressiv und sah keinen Sinn mehr im Leben. Und genau zu diesem Zeitpunkt hat mir ein Freund von der Gruppe Wagner erzählt, einer Organisation, die auf Krieg und die Lösung konkreter militärischer Konflikte spezialisiert ist. Ich ging also zu einem Aufnahmetest und einem Bewerbungsgespräch und wurde Teil einer Einheit des sogenannten privaten Militärunternehmens Gruppe Wagner. Jeder hat seine eigenen Gründe, warum er zur Gruppe Wagner stößt. Die Mehrheit ist natürlich in erster Linie am Geld interessiert und daran, eigene finanzielle Problem zu lösen. Auch ich wollte primär meine finanzielle Situation verbessern und war nicht etwa davon getrieben, meinem Leben irgendeinen Sinn zu geben. Der durchschnittliche Wagner-Söldner ist ein russischer Staatsbürger mit den für einen Russen typischen Flausen im Kopf, und das Geld, das er bei Wagner verdient, wird er nirgendwo anders verdienen.

"Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich war nicht im Krieg in der Ukraine, und ich habe keine Kriegsverbrechen begangen", sagt Gabidullin zu seiner Vergangenheit in der Gruppe Wagner.
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STANDARD: Dürfen als Teil der Gruppe Wagner auch Frauen zum Einsatz kommen?

Gabidullin: Bisher nimmt Wagner nur Männer auf. Noch gibt es in Russland ja genug Männer, um die Reihen der Gruppe Wagner zu füllen. Aber in der jüngsten Vergangenheit haben die russische Regierung und Wagner ja einiges dafür getan, um die männliche Bevölkerung Russlands zu dezimieren. Vielleicht ist der Tag, an dem Wagner beginnt, auch Frauen aufzunehmen, also gar nicht mehr so weit weg.

STANDARD: In Ihrem Buch kritisieren Sie die Korruption im Rahmen von Wagner und meinen, dass die Truppe als solche stets beraubt wird.

Gabidullin: Die Korruption ist meiner Meinung nach ein ziemlich ernstes Problem. Ich habe die Karriere vom einfachen Soldaten bis zum Kommandostab durchlaufen und war sogar im Büro des Unternehmens tätig. Ich habe Korruption wahrgenommen, und das hat mich beunruhigt. Ich hatte lange Zeit die Sorge, dass das Unternehmen von zwielichtigen Leuten betrogen wird. Erst später habe ich verstanden, dass die Gruppe Wagner ohne Korruption gar nicht existieren kann. Das ist Teil ihres Wesens.

STANDARD: Laut dem russischen Medium "Fontanka" müssen Wagner-Söldner eine zehnjährige Verschwiegenheitsverpflichtung unterzeichnen. Wie konnten Sie Ihr Buch dennoch schreiben und auf Russisch veröffentlichen?

Gabidullin: Als ich Wagner verlassen habe, legte man mir eine Verschwiegenheitsverpflichtung vor, die ich ohne zu zögern unterschrieben habe, weil ich wusste, dass das ein Stück Papier ohne rechtliche Wirkung war. Wollen Sie mir erklären, dass ein Unternehmen, dessen Tätigkeit auf dem Gebiet Russlands offiziell verboten ist, mich klagen wird, weil ich Geheimnisse preisgegeben habe? Wenn mir jemand vorwirft, dass ich Geheimnisse verraten hätte, dann müsste man ja zunächst einmal eingestehen, dass das, was ich erzähle, die Wahrheit ist. Und das werden sie nicht tun. Als ich das Buch geschrieben habe, hatte ich keine Angst vor Repressalien vom offiziellen Staat selbst, sondern vielmehr von dem Teil des russischen Staates, der außerhalb des Gesetzes existiert und wie ein kriminelles Syndikat agiert. Der russische Staat funktioniert in vielen Bereichen wie ein kriminelles Syndikat und agiert außerhalb der Gesetze, die er selbst geschaffen hat. Ich bin mir der Risiken bewusst und habe auch nicht vor, in nächster Zeit nach Russland zurückzukehren.

STANDARD: In dem Buch äußern Sie sich wenig schmeichelhaft über den Zustand der regulären russischen Armee und deren Führung. Wie eng ist die Zusammenarbeit zwischen der Wagner-Gruppe, dem russischen Verteidigungsministerium und dem Militärnachrichtendienst?

Gabidullin: Wenn Söldner eine großangelegte Militäroperation durchführen und die reguläre Armee nichts beiträgt, wozu braucht man dann eine solche Armee? Warum übernehmen Söldner Aufgaben einer Armee in Regionen, in denen die Armee sich vollkommen rechtmäßig aufhält und selbst aktiv werden könnte? Auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen zwei Staaten. Egal, was für ein Dreckskerl Bashar al-Assad auch sein mag: Er repräsentiert die einzig rechtlich anerkannte Führung auf dem Gebiet Syriens, und der Einsatz der russischen Streitkräfte dort ist rechtlich gedeckt. Die Armee erhielt deshalb auch das Lob für die Erfolge in Syrien.

Wir Söldner hatten einerseits die Aufgabe, den IS zu besiegen und andererseits die wahre Zahl der Verluste Russlands zu verschleiern, um den Eindruck eines unblutigen Siegs zu erwecken. Wüssten die Menschen in Russland und im Rest der Welt von den tatsächlichen Zahlen der gefallenen Russen in Syrien, würden sie sich fragen, ob unsere Generäle wirklich so genial waren. Ich schätze, dass dort zwischen 10.000 und 20.000 Kämpfer gefallen sind. Diese Zahl zeigt, dass der Sieg über den IS ganz und gar nicht unblutig war. Niemand weiß, wie viel Blut für diesen Sieg geflossen ist, und alle sind noch immer begeistert von der Genialität unserer Generäle. Diese Genialität beobachten wir jetzt in der Ukraine.

STANDARD: Sie plädieren dafür, dass sich Russland der Realität stellen und anerkennen muss, dass es Söldnertruppen wie Wagner gibt. Dennoch streitet der Außenminister Russlands, Sergei Lawrow, vehement ab, dass sich russische Söldner in Syrien, in der Zentralafrikanischen Republik oder nun in der Ukraine aufhalten.

Gabidullin: Söldnerheere sind inzwischen zum integralen Bestandteil der politischen Landschaft in Russland geworden, wodurch sie einen starken Einfluss auf die Politik gewonnen haben. Dennoch dürfen sie in der jetzigen Form nicht existieren, weil sie dem Ruf Russlands schaden. Ein Land braucht solche Militärunternehmen, aber dafür müssen klare gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden.

STANDARD: Sind Ihnen andere russische Söldnertruppen bekannt, die nicht so wie die Gruppe Wagner im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stehen?

Gabidullin: Die Gruppe Wagner hat das Monopol und kontrolliert den Markt der Militärunternehmen. Ich würde sagen, dass bis vor kurzem eine andere paramilitärische Organisation, die Gruppe Redoute, nach äußeren Merkmalen fast alle Voraussetzungen für ein Militärunternehmen erfüllt hat. Nach meinen Informationen hat sich die Gruppe Redoute bereits in den Krieg gegen die Ukraine eingemischt.

Andere paramilitärische Organisationen wurden ad hoc für diesen Angriffskrieg geschaffen, und es stellt sich die Frage, was sie nach den Kriegshandlungen machen werden. Anscheinend werden sie die okkupierten ukrainischen Gebiete bewachen.

STANDARD: Hat sich im Laufe der Zeit Ihre Haltung zur Gruppe Wagner geändert? Im Buch bedanken Sie sich auf der letzten Seite für die Chance, die Ihnen diese Organisation gegeben hat.

Gabidullin: Ich bereue die Jahre, die ich bei der Gruppe Wagner verbracht habe, nicht und habe dieser Chance mein Schicksal zu verdanken. Vielleicht ist das nicht mein Verdienst, und die Umstände haben sich so ergeben, aber ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich war nicht im Krieg in der Ukraine, und ich habe keine Kriegsverbrechen begangen. Während meiner Dienstreise in die Ukraine 2015 habe ich mich nicht an den Kriegshandlungen beteiligt. Daher schäme ich mich nicht, es war für mich eine Schule des Lebens.

STANDARD: In Ihrem Nachwort meinen Sie, dass Sie gefragt wurden, ob Sie bereit wären, in den aktuellen Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. Sie haben Nein gesagt. Warum?

Gabidullin: Die Ukraine ist für mich Teil des Landes, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Ich sehe die Ukrainer als Brudervolk an. Es handelt sich um einen souveränen Staat, der mit gutem Recht darauf hinarbeitet, eine Demokratie zu werden. Der von Putin ausgedachte Anlass zum Krieg ist ein kompletter Unfug. Wie kann ich in so einen Krieg ziehen, der von Durchgedrehten geführt wird? Das ganze russische Volk wird von einem Haufen Menschen verarscht, die die Macht im Land an sich gerissen haben. Ich will nicht verarscht werden. Sie labern über den Schutz von irgendwelchen kulturellen Werten, von einer russischen Welt. Sie inszenieren sich als große Patrioten, wohingegen sie Immobilien und Vermögen im Westen besitzen. Ihre Kinder leben genauso im Westen. Und diese Menschen wollen, dass ich mich für sie aufopfere und gegen jene kämpfe, die ihre Freiheit verteidigen und ein demokratisches Land aufbauen möchten? Der einzige Zweck dieses Krieges ist es, demokratische Bestrebungen in der Ukraine im Keim zu ersticken, weil es ein Nachbarland ist und es sehr enge Verwandtschaftsbeziehungen zwischen russischen Russen und Ukrainern gibt. Die größte Angst der russischen Regierung ist es, dass diese demokratischen Werte über die Grenze nach Russland überschwappen.

STANDARD: Wie viele Wagner-Söldner sind, schätzen Sie, momentan in der Ukraine aktiv? Einigen Berichten zufolge waren Wagner-Söldner an dem Massaker an Zivilisten in Butscha beteiligt.

Gabidullin: Meiner Einschätzung nach sind momentan nur drei bis vier Wagner-Einheiten in der Ukraine tätig. Die Ambitionen von Prigoschin umfassen ja primär Libyen, Mali und Zentralafrika. Ich glaube nicht, dass er mehr Söldner in den Krieg gegen die Ukraine schicken würde, weil dies sofort seine Positionen auf dem afrikanischen Kontinent deutlich schwächen würde. Der Einsatz von Wagner in der Ukraine ist für das Unternehmen nicht zuletzt eine Möglichkeit, die Schulden, die sich gegenüber dem russischen Staat für die Miete der Waffen angesammelt haben, zu begleichen.

Soweit ich weiß, gab es keine Wagner-Einheiten in Kiew. Es gab dort nur Söldner von anderen, kurz vor dem Krieg gegründeten Unternehmen. Zu der Schuld an Kriegsverbrechen: Man muss verstehen, dass Söldner als Stoßtrupps agieren. Sie sind besser ausgebildet als gewöhnliche Wehrpflichtige und um sie ist es nicht schade. Verluste unter ihnen zählt niemand. Aber wenn man als Stoßtrupp kämpft, trifft man kaum auf Zivilisten, sie verstecken sich während der Kämpfe. Eine andere Sache sind jene, die als zweite Staffel auf den Stoßtrupp folgen. Ich denke, dass Kriegsverbrechen eher von regulären Streitkräften verübt werden.

STANDARD: Wenn es in Frankreich, Österreich, Deutschland oder auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof Verfahren gegen Sie oder gegen andere Wagner-Söldner gibt, wären Sie bereit, auszusagen?

Gabidullin: Ich bin natürlich bereit, meine Meinung zu sagen. Wenn ich aber sage, dass ich keine Kriegsverbrechen begangen habe, heißt das, dass ich nie ein Zeuge von den Kriegsverbrechen gewesen bin. Ich hätte das niemals zugelassen.

Man sollte die Söldner aber nicht dämonisieren. Aus den sadistischen Ausrutschern einzelner Menschen lässt sich nicht auf alle Söldner schließen. Ich bin ziemlich skeptisch, wenn ich Berichte über die massenhaften Gräueltaten der Gruppe Wagner lese. Sicherlich, ich halte die Söldner nicht für Unschuldslämmer, wir haben ja mit Menschen aus randständigen Schichten zu tun. Aber sie haben Erfahrung und eine starke Psyche und haben davor bereits genug Kriegserfahrungen gesammelt. In Butscha sind die einfachen Wehrpflichtigen komplett durchgedreht, weil sie nie zuvor so viel Macht und Überlegenheit verspürt haben. Gleichzeitig hat sie niemand davon abgehalten, auf Zivilisten zu schießen.

Aber was sind Kriegsverbrechen? Mord, die Tötung von Verwundeten, die Folter von Kriegsgefangenen – all diese Dinge werden von beiden Seiten eines Konflikts begangen, das war schon immer so. So ist der Krieg, und wer den Krieg erlebt hat, weiß das.

STANDARD: Rechnen Sie mit einer Generalmobilmachung aller Streitkräfte in Russland?

Gabidullin: Der Staat wird bis zum letzten möglichen Moment und solange das Geld für die Söldner ausreicht, auf diese verdeckte Mobilisierung (also den Einsatz von Söldnern, Anm.) setzen. Sie wissen, dass die Unterstützung der Bevölkerung weg ist, sobald sie eine generelle Mobilmachung ankündigen. Alle, die jetzt den Buchstaben Z tragen und Flaggen schwingen, werden in die Wälder fliehen. Sie werden nach Kasachstan oder in die Taiga abhauen. Wenn diese Menschen etwas anderes tun sollen als Fahnen zu schwenken, wird ihr wahres Wesen zum Vorschein kommen. Und der Staat weiß das. (Vitaly Vasilchenko, Levin Wotke, 30.6.2022)