Von einem Ausverkauf der Nato-Werte sprechen Kritiker des Deals, ein weiteres Einknicken vor dem Autokraten vom Bosporus kritisieren andere Expertinnen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich wieder einmal durchgesetzt – wie so oft in den vergangenen Jahren. Sei es der Deal um die Beherbergung syrischer Flüchtlinge, der Einmarsch ins südliche Nachbarland Syrien, die fast schon regelmäßigen Verletzungen des Luftraums von Nato-Partner Griechenland oder auch der Einkauf der russischen S-400-Triumf-Luftabwehrsysteme. Letzten Endes blieb alles ohne schmerzhafte Konsequenzen für die Türkei. Ganz im Gegenteil. Man schlug finanziellen und strategischen Profit.

Regelmäßig wurde in der Vergangenheit der Ruf laut, den lästigen Nato-Partner aus dem Südosten aus dem Verteidigungsbündnis zu werfen. Dabei wird oft vergessen, dass dies der Nordatlantikvertrag gar nicht vorsieht. Ein Staat kann nur aus freien Stücken die Nato verlassen – nicht aber hinausgeworfen werden. Die Gründerväter der Nato spielen Erdoğan in die Karten.

Erdoğan kann Machtpolitik, das bekommt auch die Nato zu spüren.
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Das weiß der türkische Präsident freilich und verhält sich auch so. Er weiß, dass die Nato das zweitstärkste Militär nach den USA nicht einfach so ersetzen kann. Er weiß auch, dass die regelmäßigen diplomatischen Flirts mit anderen Autokraten – allen voran Wladimir Putin – den restlichen Nato-Partnern Sorgenfalten auf die Stirn treiben. Und er weiß um die geopolitisch hervorragende Lage der Türkei, sei es als Landbrücke zwischen dem Nahen Osten und Kontinentaleuropa oder als maritimes Nadelöhr, welches das Schwarze Meer mit den großen Ozeanen verbindet. Der türkische Präsident spielte im Vorfeld des finnischen und schwedischen Nato-Beitritts all diese Karten aus. Die Nato-Staaten hatten dem wenig entgegenzusetzen. Und so kam man dem türkischen Wunsch nach, neben der Kategorisierung der PKK als Terrororganisation auch jegliche Unterstützung für kurdische Gruppen und Parteien zu untersagen.

Heftige Kritik von Kurden

Nilüfer Koc, Sprecherin des Kurdischen Nationalkongresses, warnt davor, dass die Nato-Beitritte auf dem Rücken der Kurden ausgetragen werden. Mit den Zugeständnissen an die Türkei rücke eine friedliche Lösung für die Kurden in weite Ferne, sagt sie. Damit würde die türkische Diktatur ermutigt und bestätigt, das sei ein Anschlag auf die Demokratiebewegung in der Türkei.

Eine Auslieferung von kurdischen Aktivisten aus Schweden und Finnland, wie das jetzt von der Türkei gefordert wird, wäre völkerrechtswidrig und ethisch nicht vertretbar, sagt Koc im Gespräch mit dem STANDARD. Es sei unerträglich, wenn Schweden und Finnland jetzt grünes Licht für einen türkischen Angriff auf Syrien geben würden.

Koc warnt davor, die Kurden "zu verraten", sie macht auf die Millionen von Sympathisanten, die in Europa leben, aufmerksam. Koc, die im kurdischen Nationalkongress für internationale Beziehungen zuständig ist, erinnert auch daran, dass die Kurden, allen voran die PKK, gegen den IS gekämpft hätten, die Türkei diesen unterstützt habe. Einen Frieden in der Region könne es nur durch die Einbindung der Kurden geben. Die Türkei zu einer Offensive zu ermuntern sei völlig kontraproduktiv.

Dem zum Trotz nähert sich auch Österreich ein wenig der Türkei an. Kanzler Karl Nehammer wollte sich Mittwochabend am Rande des Nato-Gipfels mit Erdoğan zu einer Unterredung über die Ukraine treffen. (Fabian Sommavilla, Michael Völker, 30.6.2022)